Manche sterben, manche sind Fisch (Der Dichter 5)

„Komm rein“, sage ich, und es ist so, als wäre gerade ein Ufo gelandet, ausgerechnet hier, in dieser trostlosen Plattenbaugegend mitten in der rumänischen Provinz, kurz nach der Wende.

Wenn ich ein Ufo wäre, dann würde ich auch hier landen, denke ich, als kleiner grüner oder großer blauer Mann, in einer Gegend nämlich, wo sowieso alles auffällt, das neu oder fremd ist, selbst eine Packung Marlboro ohne Filter. Hier könnte mich keiner von einem besoffenen Deutschen oder Holländer unterscheiden, und jeder würde mich am Kiosk bedienen, auch als Marsmännchen, ohne gleich die Ufo-Meldestelle anzurufen, Hauptsache sie können mir etwas andrehen. So stand der Dichter vor meiner Tür, als teils grüner – und teils blauer Mann, Zwerg und Riese gleichzeitig, entfernte Mondlandschaften in seinen Augen, der Mund offen, wie eh und je.

Seit einigen Monaten hatte ich ihn nicht mehr gesehen, nach massiven ehefraulichen Selbstmorddrohungen brach er den Kontakt zu mir ab. Um die Zeit des Liebeskummers sinnvoll zu gestalten, vertrieb ich mir meine Tage mit einem schönen, sonnengebräunten Rumänen.

„Wenn du  einen Rumänen oder einen Neger heiratest, bist du nicht mehr meine Tochter“ – sagte mir mal mein Vater und daran hat mich auch nur das mit dem  „Neger“ gewundert, weil ich bis dahin nur einmal  einen „Neger“ gesehen hatte, irgendeinen afrikanischen Medizinstudenten, dessen Anblick auf dem Hauptplatz in den 70ern für Verkehrstau sorgte. „Neger“, das dürfe man auf Ungarisch sagen, behauptete mein Vater, das sei nur in Amerika abwertend, hier bei uns aber ganz normal. „Political Correctness“ war eben damals schon etwas, das einer vom Balkan nicht verstehen konnte, und heute ist es immer noch so, und so wird das auch in hundert Jahren sein, Demokratie hin oder her, bei uns wimmelt es nur so von Tzigans, Walachen, Neger, Scheißnazis und Kommunistenschweinen und wie sie alle mit ihren Kosenamen heißen – ich suchte mir also einen rumänischen Neger, um mir ein Gleichgewicht zu verschaffen, nach vielen Jahren als Heimatgedichte-Rezitierende,  folkloreträchtige „Ungarin“ aus der Kirchengemeinde.

P. war wirklich sehr dunkel, mit riesigen Lippen und einer breiten Nase. Man fragte sich bei dem Anblick seiner Eltern woher das alles kam, und ich beäugte die Mutter misstrauisch - vielleicht waren das semitische Gesichtszüge, er war nämlich halb Jude, was die Sache überhaupt nicht besser machte. Nach dem Motto: ein Schwarzer sitzt in der New Yorker Metro und liest „Jerusalem Post“ worauf ein Mann ihn fragt „Sagen Sie, einfach nur Neger, reicht das nicht aus?“ Ich jedenfalls wollte der blutleeren und hochintellektuellen ungarischen Literaturnoblesse entkommen, dem gebildeten Dichter mit seinem blassen Gesicht, dem der Jugendstilstuhl vom Kaffeehaus schon am Hintern festgewachsen war.

Seitdem ich P. kannte, gab es jeden Abend Party, saufen und tanzen bis zum Umfallen, er sang „Hit the Road Jack“ wie ein Teufel und tanzte dazu über die verschneiten Straßen der Kleinstadt, die Leute blieben stehen und applaudierten, und wir stimmten im Chor ein: „Hit the Road Jack“, wovon ich nur verstand, dass jemand abhauen und nie wiederkommen sollte, und so fühlte ich mich auch, als hätte mich jemand aus dem Land geschmissen, ich sah, ja beschwor dabei förmlich diese „Road“, an deren Ende Paris lag oder New York oder Berlin.

P. zog nach der ersten Nacht bei mir ein mit allen seinen Puppen und seiner exzellenten Plattensammlung, mit seinem Palestinensertuch, das nur er in ganz Rumänien besaß, denn P. hatte auch schon ein Jahr in Berlin gelebt, in einem besetzen Haus, und hatte im Café „Seifen und Kosmetik“ in der Schliemannstraße gekellnert, dort zusammen mit anderen rumänischen  Tresenkräften das Schild „We don´t speak german“  aufgehängt, was die lesbische Besitzerin des Lokals sehr lustig fand, und ich konnte weder verstehen, was ein besetztes Haus war, noch warum ein Café wie eine Drogerie hieß, vor allem nicht, was „lesbisch“ ist und wieso die es so lustig fand, dass die Bedienung in ihrem Laden kein Deutsch spricht. In Rumänien hätte es dafür eins auf die Mütze gegeben und zwar mit einem richtig dicken Knüppel, dass es weh tut. Ich wurde damals, ohne es zu merken, unheilbar und lebenslänglich mit dem Berlin-Virus infiziert.

Schon auf dem Hauptplatz hörte ich die hohe Stimme einer Sängerin, die ich nicht kannte: „…Well, I got a brand new pair of roller skates / You got a brand new key / I think that we should get together and try them out you see…“

Der Gesang wurde lauter, als ich die König-Matthias-Statue hinter mir ließ und in unsere kleine Straße einbog, die aus unerfindlichen Gründen den Namen eines französischen Astronauten trug, und ich begriff, dass die Musik aus meiner Wohnung kam. Aus meiner kleinen WG mit den wackeligen Wänden, wo die Gäste auf dem Bauch durch den Hof kriechen, damit die Vermieterin vom Küchenfenster aus nicht sehen kann, wie viele es sind, und als ich reinging war keiner da, die unbekannte Platte lief auf einem fremden Plattenspieler, ich verliebte mich sofort in die Stimme, die aus dem Hals von Melanie Safka kam, wie mir die Schrift auf der Scheibe verriet, und als ich mich umschaute, sah ich überall Marionetten, Holzfiguren in meinem Bett, auf dem Tisch, neben dem Herd, an den Wänden, überall grinsten, schrien, weinten und lachten die Puppen, die Dämonen, Götter, Teufel und Naturgeister, Hänsel und Gretel, Rotkäppchen und die Schneekönigin.

P. war Puppenspieler, und an dem Vormittag, als der Dichter mit seinen beiden Koffern auftauchte, hatte er gerade seine Sonntagsmatinée für Kinder. Ich sah den Dichter an und wusste, dass ich anderthalb Stunden Zeit hatte um aus der Zwickmühle rauszukommen.

„Komm rein“, sagte ich, er trat zögernd näher, trug seine Koffer hinein und setzte sich in die hoffnungslos verdreckte Küche, schweigend wie immer. Ich zündete mir eine Zigarette an. Sicherheitshalber fragte ich nach seiner Frau, obwohl ich sofort wusste, was passiert war. „Ich habe sie verlassen“, antwortete er, wie erwartet, es reichte ein kurzer Blick auf seinen Koffer, um zu wissen, dass er nicht so schnell wieder abreisen wollte, und ich merkte, wie ich gravierende Fluchtgedanken bekam. Meine Mitbewohnerin Rita erschien in der Tür, blass und verschlafen, in ein überdimensional großes Männershirt vom Chinamarkt gehüllt, ich sah, dass ihre Hände zittern. Sie begrüßte den Dichter übertrieben freundlich, bot ihm einen Kaffee an, die Tasse klimperte unerträglich in ihrer Hand und der Dichter schaute mich verwundert an. Ich versuchte möglichst freundlich und unauffällig zu lächeln, während ich verzweifelt darüber nachdachte, wie ich die Marionetten und das andere Zeug schnell aus meinem Zimmer verschwinden lasse. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, zog Rita unauffällig die Tür hinter sich zu. Ich wusste, dass sie jetzt mit rasender Geschwindigkeit die Marionetten und die männlichen Unterhosen aufsammelte und irgendwo in den Untiefen eines alten Schrankes versteckte.

Der Dichter sah erschöpft aus. Die Fahrt von Budapest in die siebenbürgische Kleinstadt dauerte mindestens zehn Stunden, davon fünfhundert Kilometer auf engen Landstraßen voller Schlaglöcher, dazu stundenlange Warterei an der Grenze, wo tausende Menschen ihren absurden frühkapitalistischen Geschäften nachgingen, der florierende Schwarzhandel den Verkehr lahmlegte und die Wiesen bis nach Szolnok vollgeschissen waren, weil es keine öffentliche Toiletten gab.

Er wolle sich kurz hinlegen, sagte der Dichter, in dem naiven Glauben gefangen, er sei endlich seinem Herzen gefolgt, habe nach dem Knast einer viel zu jung geschlossenen Ehe den Weg in die Freiheit eingeschlagen, und irgendwie traute ich mich nicht, ihm diese Illusion zu nehmen, obwohl ich es bereits ahnte, dass diese Sache nicht mehr gut ausgehen könne. Ich hatte das ulkige Gefühl, seine Gedanken zu lesen, seine Vorstellung vom wilden Leben, das er hier anfangen würde, in der kaputten, rumänischen Vorstadt, mit Schnaps, Gipsymusik und einer schwer gestörten Neunzehnjährigen, die sich innerlich schon längst auf die „Road“ in die weite Welt gemacht hatte, Pariser Cafés und Berliner Clubs vor Augen. Immerhin ist er erst dreißig, dachte ich, andere großen Literaten kamen erst kurz nach dem Eintreten der partiellen Altersimpotenz auf diesen Trip, und gestörte Neunzehnjährige gab es auch immer genügend.

Wir müssen hier weg, denke ich, sonst sieht der ahnungslose Dichter bald wieder wie die Baba Yaga aus und hat umsonst seine Vorderzähne so schön machen lassen. Plötzlich nervt es mich, dass sein Mund ständig offen steht, ich finde auf einmal, dass er sehr dümmlich aussieht, was mir das ganze vergangene Jahr, Hals über Kopf verliebt, natürlich nicht aufgefallen war. Jetzt entdecke ich den Ansatz eines Doppelkinns, Pickel, Mitesser, fettige Haut ungewaschene Haare.

„Van aki meghal, van aki meg hal“,  der Spruch aus dem Budapester Literaturcafé fällt mir ein. Da hält er regelmäßig seine Lesungen, und ich trieb mich da manchmal herum, in der Hoffnung ihn zu treffen. „Manche sterben, manche sind Fisch”, hieße das auf Deutsch, ein Spiel mit dem Wort „hal”, das sowohl „sterben” als auch „Fisch” bedeutet, und mir fällt auf, dass er nie etwas sagt, lautlos atmet und mich mit runden Augen anguckt…Ich bekomme einen Schweißausbruch.

Ich muss jetzt dringend etwas unternehmen, ich halte die Spannung nicht aus, das Gewicht der Erkenntnis, dass jemand sich innerhalb einer Minute aus Romeo in einen halbtoten Fisch verwandeln kann, der ganz schön stinkt und das alles nur, weil ich gerade erfahren habe, dass unsere hoffnungslose Liebe jetzt auf einmal hoffnungsvoll werden soll, dass ich die Frau des Dichters werden könnte, seine Muse, das Kürzel R. vor seinen schwer verständlichen, aber tatsächlich sehr schönen Gedichten. „Für R.” oder „Meiner Frau R. in Dankbarkeit”, ich höre die Küchenuhr schreiend ticken, nichts wie weg, denke ich, einfach nur weg… aber wie?

Ich bin verwirrt, fühle mich verkatert, wie nach tagelangem Besäufnis, mit Acetongeschmack im Mund und nikotinschwarzen Fingern, die Lunge schmerzend bei jedem Atemzug, die Welt asphaltgrau und zugemüllt. Ich weiss nicht, was das ist, ein Vorschatten, ein Gefühl, das etwas Grundsätzliches nicht stimmt mit dieser romantischen Liebe, ein Konstrukt das gerade einzustürzen droht. Etwas ist gravierend faul, wenn der, der gestern noch Romeo war, heute nicht mal als Brathering durchgeht.

Viele Jahre später sitze ich neben dem rauchenden Trümmerhaufen meines Liebeslebens, bis der Fisch, der an dem Tag am Küchentisch gestorben ist, wieder zum Leben erweckt wird und langsam Fahrrad fahren lernt, Romeo und Julia Freud zu Ende gelesen haben und die gesamte Truppe in der Postpostmoderne angekommen ist.

Aber das passiert erst später, jetzt strahle ich von einer plötzlichen, genialen Idee getrieben den Dichter an und sage: „Ich will dich meinen Eltern vorstellen!” Sein Gesicht hellt sich auf, der Köder ist gelegt und ich fahre fort: „Lass uns sie besuchen… äh, sie wohnen nur ca 100 km von hier entfernt… wir trampen… Am besten, wir gehen jetzt gleich los! Da kannst du dich dann auch ausruhen.”

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Wirklichkeit

Ich sitze in einem Kreuzberger Schawarmaladen und trinke Pfefferminztee. Meine Freundin isst genüsslich Fleisch mit Soße und Fladenbrot, ich schaue ihr dabei zu. Mein Magen fühlt sich an wie eine kleine harte Nuss, in der Brust ein Stechen, das nicht aufhören will. Ich bin aus dem Krankenhaus geflohen um zu meiner Premiere zu gehen und jetzt fliehe ich vor der Premiere zum arabischen Fast-Food möglichst weit weg vom Ort des Schreckens. Schließlich soll ich vor lauter Aufregung keine Frühgeburt kriegen. Oder sonstwas. Ich halte mich an dem heißen Glas fest, während die Absagen und Kritiken des letzten Jahres, wie der fliegende Teppich des Zauberers aus Tausendundeine Nacht über mir schweben und einen mächtigen Schatten werfen. Hauptsache ich bringe diese Premiere irgendwie hinter mich. Während meine Freundin ein Stück Brot in die Soße tunkt, kommt ein Sms.

„Ab jetzt 93 Minuten“.

Die Todeszelle ist eng, die letzte Mahlzeit habe ich nicht bestellt. Was bringt es, wenn ich sowieso krepieren muss. Gebeichtet habe ich auch schon genug.  Jetzt geht es nur noch darum, das bisschen Zeit abzusitzen, und dann diesen Weg zu laufen, durch die Tür hinaus, den Flur entlang, links abbiegen, hundert Schritte nach rechts, in den Raum hinein, und dem Henker tief in die Augen schauen. Er ist ein strenger und frustrierter Mann mit einem Scheißjob.

Während ich meine Zeit so in Gedanken verbringe, erzählt mir meine Freundin von ihren Plänen, endlich schwanger zu werden, Kindererziehung, Probleme mit dem Schulsystem. Sie redet ohne Pause, ganz offensichtlich um mich abzulenken. Teilweise klappt es auch, ich bin ihr dankbar. Doch innen drin gibt es diese harte Nuss, genau zwischen Bauch und Zwerchfell, ein Punkt im Universum, fest und unbeweglich, so dass ich von dort aus die ganze Schöpfung verschieben könnte.

Noch ein Sms kommt:

„Die Leute lachen.“

Es wird ein bisschen leichter und ich wundere mich. Lachen ist das letzte womit ich gerechnet habe. Bei den Sichtungen mit Kollegen und Fachleuten herrschte stets eine bedrückte Ernsthaftigkeit, eine Art Grabesstimmung, die meine lustig gemeinten Einfälle wie tote Fliegen von der Decke plumpsen ließ, hinein in das Mausoleum der kritisch-analytischen Ernsthaftigkeit. Fehler wurden entdeckt, herausgearbeitet, auseinandergenommen.

Mittlerweile habe ich alle Pfefferminzblätter aufgegessen, die Stimme meiner Freundin plätschert wie ein Springbrunnen dahin, ich kann die Wörter nicht auseinanderhalten. Der Countdown läuft unerbittlich. Wie viele Minuten haben wir noch? Sie sucht nach ihrem Handy. Wir müssen los. Aufstehen und zahlen. Nach links, nach rechts. Kurz in die Wohnung hinein, mein Telefon vom Ladegerät holen. Ein Sms auch für mich da:

„Kommt super! Die Leute lachen andauernd!!!“

Leise kommt Freude auf, wie eine zarte Pflanze, die es gerade geschafft hat, durch eine Felsenritze zu wachsen.

Ich habe mit einem Flop gerechnet. Mit verhaltenem Lächeln von Freunden, die mir vermitteln, dass es nichts macht, mal was vergeigt zu haben, sie lieben mich trotzdem. Ich will aber nicht trotzdem geliebt werden, sondern gerade weil.

Wir steigen ins Auto. Es wird immer knapper. Ankommen, parken. Letze Sms.

„Abspann läuft.“

Eine junge Frau öffnet die Tür und nimmt mir die Tasche ab. Ich gehe in den Saal hinein. Applaus. Treppe hoch. Noch mehr Applaus. Treppe runter. Jubeln. Glückliche Gesichter.

Die Wirklichkeit ist ein komisches Ding.

Es gibt viel Platz auf der Bühne, das Klatschen geht Minuten lang weiter. Menschen kommen und gratulieren. Sie hatten offensichtlich Spaß. Mitunter „ganz normale” Leute, ohne Filmerfahrung.  Andere, die den Film schon vorher gesehen und äußerst kritisch beäugt hatten, sagen jetzt: „Du hast den Film umgeschnitten, oder? Jetzt gefällt er mir super!“  Ich nicke, ja, ja, das stimmt zwar nicht, aber ich will keine Verwirrung stiften.

Ich hatte mal mit großem Erfolg gerechnet. Es wurde ein Flop. Jetzt habe ich mit einen großen Flop gerechnet und es wurde ein Erfolg.

Donnerstag Abend. Tao Te Puh. (Das Buch vom Tao und Puh dem Bären) Kamikazeflieger. Paradoxe Interventionstherapie.

Die Wirklichkeit, nichts als eine weiße Leinwand, auf der ich meine Bilder projiziere.

Nur: wer bin ich? Und wer ist die Leinwand? Was machen die Anderen während dessen?

„Wer seine Heimat verlässt, verliert einen Teil seiner Seele.“ – steht es auf der Postkarte zu meinem Film. In diesem Sinne:

Was ist Heimat?  Und was ist Seele?

 

 

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Endlich Premiere oder warum bin ich kein Genie?

Ich habe einen Film gemacht. Der sollte in Cannes laufen. Oder auf der Berlinale. Das tat er nicht. Er lief einfach Nirgendwo. Eine ganze Weile. Ich trauerte, ich ärgerte mich, ich fand es ungerecht, ich kämpfte mit mir, ich gab den ganzen Beruf auf und schmiedete neue Pläne, ich suchte den Verantwortlichen und fand ihn bei mir. Das wiederum fand ich sehr tapfer, dass ich so selbstkritisch war. Vor lauter Selbstkritik blieb in meinem Leben alles stehen. Ich meinte jeden einzelnen Fehler finden und analysieren zu müssen, und hasste jeden, der mich kritisierte. Trotz ausgiebiger Analyse und Nachdenken bis der Arzt kommt, bekam ich keine befriedigende Antwort auf… welche Frage eigentlich?

Ich merkte, dass ich mich auf das Wesentliche konzentrieren, und die Frage genau stellen musste.  Also stellte ich die kardinale, alles entscheidende Frage eines jeden Künstlers:

„Habe ich überhaupt Talent?“

Hat jemand, dessen erster Spielfilm nicht auf einem großen Festival läuft, Lebensberechtigung? Talent kann man ja nicht erlernen. Also, wenn ich es nicht habe, dann stellt sich die Frage zum Beispiel… einer gut organisierten Hühnerzucht. Jetzt,  wo ich auf dem Land wohne. Oder, in der Rolle der Mutter restlos aufzugehen, in Fitnesswahn auszubrechen, mich für biologisch-dynamische Trennkost und Waldorf-Erziehung zu interessieren, oder mein Seelenheil bei den Zeugen Jehovas zu suchen.

Ich übersetzte die Frage auf Ost-Europäisch. Jetzt lautete sie so:

„Bin ich genial?“

Bei uns zählt nämlich gar nix unter Genie. Leistung ist etwas für langweilige Protestanten.

Béla Tarr*  ist zum Beispiel genial. Wenn ich auch nur eine Einstellung aus einem seiner Filme sehe (die Einstellungen dauern im Schnitt 35 Minuten in schwarz/weiß), dann wird mir klar, dass ich mindestens noch fünfmal als Ameise auf die Welt kommen und sehr fleißig Sandkörner schleppen muss, um das mal zu schaffen. Die Antwort könnte also lauten:

1. Nein, ich bin es nicht. Genie zeigt sich schon im Kindesalter. Oder spätestens mit Anfang zwanzig, in einem rasenden Festivalerfolg.

Ich aber wusste mit Anfang zwanzig höchstens, in welche Kneipe ich am Abend gehen werde. Oder nicht einmal das.

Darüber, dass ich kein Genie bin, wurde ich sehr traurig. Und irgendwie fand ich das auch ungerecht. Warum ausgerechnet ich nicht? Der Mozart oder die Frida Kahlo oder auch der schon erwähnte Béla Tarr oder meine fünf Kumpels aus der siebenbürgischen Stammkneipe? Warum sind sie das und ich nicht??

Ich kam nicht weiter, bis sich ein rettender Gedanke auftat:

2. Es gibt auch späte Genies. Manche müssen zuerst todkrank werden oder in den Knast kommen, Drogen nehmen oder sich hoffnungslos in einen Selbstmordattentäter verlieben oder zu Fuß nach Afrika pilgern. Um nur ein paar Möglichkeiten zu erwähnen.

Doch ich habe irgendwie einen ganz dicken Bauch. Muss im Bett liegen und kriege bald ein zweites Kind. Mein Mann ist auch kein international gesuchter Terrorist, nur ein einfacher, manchmal jähzorniger aber meistens netter Ehemann. Mein verzweifelter Versuch, endlich drogensüchtig zu werden, ist schon mit 25 gescheitert… wie soll man da genial sein?

Ich suchte weiter und kam zu Schluss, dass man

3. Nicht genial sein muss um glücklich zu werden.

Ja. So. Das stimmt. Jetzt haben wir die Lösung. So klingt eine Lebensweisheit. Ich brauche das gar nicht, „genial sein“  ist unwichtig, ich konzentriere mich ab jetzt auf das innere Glück. Pause, neuer Kaffee.

Nicht zweifeln, nicht denken, sich auf die inneren Werte konzentrieren.

Plötzlich bin ich drei Jahre alt, sitze im ungeheizten Wohnzimmer meiner Großmutter auf dem Kinderstuhl und darf nicht spielen, um keine Unordnung zu machen. Oma stinkt ein wenig und will mir Werte beibringen. Sie sagt zum Beispiel „Das wichtigste im Leben ist die Güüüte.“  Mit einem sehr langen Ü.

Mein zweiter Kaffee ist schon leer, ich konzentriere mich immer noch auf das innere Glück. Da kommt mir ein rettender Gedanke. Ich könnte meinen ganzen Werdegang als Filmemacher einer Analyse unterziehen.

1. Am Anfang meines Studiums sagte der Dokumentarfilmlehrer: „Sie haben kein ausgesprochenes Filmtalent. Sie haben eine besondere Sicht auf die Welt. Und das ist viel wert.“ – Er wollte mir damit ein Kompliment machen, ich nahm das als Beleidigung.

2. Hauff* sagte: „Sie sollten Filme über Frauen machen. Die andere Seite ist schon belegt.“ – Ein guter Tipp. Habe ihn nicht befolgt.

3. Ballhaus* meinte nach einer Kameraübung: „ Réka, Du hast ein seltenes Talent, mit Schauspielern umzugehen. Ich habe wirklich viele Regisseure in meinem Leben gesehen, junge und alte, und das was du kannst, können nur ganz  wenige“ – Wao. Und das sagt er, der mit Scorsese und Coppola gearbeitet hat.

Danach bin ich als erstes in die Kneipe gerannt und habe mein Erlebnis mit Ballhaus ausgiebig meinen Freunden erzählt. Das machte Eindruck und ich war ganz berauscht von mir selbst und meiner vermeintlichen Größe. Über die Jahre wurde die Story mit Ballhaus meine Lieblingsleier, und ich fing an, mich darüber zu wundern, dass sich das noch nicht eingestellt hat. Schon sechs Jahre um und noch keine kleine Scorsesa? Nicht Mal eine Sofia Coppola? Erste Zweifel taten sich auf. Hat er das wirklich gesagt?  Oder habe ich mir das nur eingebildet? Später erkannte mich Ballhaus nicht mal mehr in der Cafeteria. Aber er ist ja auch alt und vielleicht schon ein wenig…na ja.

Meine beste Freundin Réka rief mich an, nachdem sie meinen ersten Spielfilm sah, ihre Stimme, als würde sie mir eine Todesnachricht überbringen: „Wie konnte das passieren?“ – fragte sie.

Der Kritiker rief an und sagte: „Ganz tolles Debüt, gefällt mir sehr gut, das wird super laufen“

Meine Lehrerin sagte: „Du bist so von Meinungen Anderer abhängig, es ist egal wer was sagt, Du musst es für Dich wissen..“

Hühnerzucht, denke ich.  Schenkt mir bitte zwanzig Hühner, ich zähle jeden Morgen die Eier. Das wird toll. Oder macht  mich zum Postboten. Zur Arzthelferin mit Kopftuch beim Kreuzberger Gynäkologen. Oder überweist mir einfach jeden Monat 1500 Netto und ich kümmere mich um den Haushalt.

Es ist Ostern.

4. Nur die Liebe zählt. Das steht in der Bibel im einzigen Kapitel das ich wirklich öfters gelesen habe. Apostel Paulus, erster Brief an die Korinther, Kapitel 13.

Wenn ich in Menschen- und in Engelszungen redete, 
hätte aber die Liebe nicht, 
wäre ich ein dröhnendes Erz und eine klingende Schelle…

An manch einem Karfreitag habe ich über dieses Zitat geweint. Einmal mit sechzehn, da lief es im Radio und ich schlief gerade. Es drang zu mir durch, ohne dass ich die Möglichkeit hatte, darüber nachzudenken. Als ich aufwachte, flossen mir die Tränen, und ich konnte gar nicht aufhören zu weinen, weil ich fühlte, dass es stimmt.

Es gibt eben Dinge, die muss man fühlen und Gefühle sind wie Talente. Die kommen von irgendwo und lassen sich nicht beherrschen.

Solange ich nicht fühlen kann, muss ich eben denken. Oder Hühner züchten. Oder im Schlaf das Radio einschalten und hoffen, dass etwas zu mir durchdringt. Wie zum Beispiel:

„Jetzt schauen wir noch wie durch einen Spiegel 
in einem dunklen Wort,
dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. 
Jetzt erkenne ich nur Teile, 
dann aber werde ich erkennen, wie auch ich erkannt sein werde. Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei.

Am größten aber ist die Liebe.“

Schön, oder?

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Premiere am 19.04.2012 um 21:30 im Filmtheater am Friedrichshain


* Béla Tarr [ˈbeːlɒ tɒrː] (* 21. Juli 1955 in Pécs) ist ein ungarischer Filmregisseur.
* Reinhard Hauff (* 23. Mai 1939 in Marburg) ist ein deutscher Regisseur und Drehbuchautor.
* Michael Ballhaus (* 5. August 1935 in Berlin) ist ein deutscher Kameramann, einer der bedeutendsten des deutschen und internationalen Films.
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Die Kultur der Angst oder ein ganz normaler Tag in einem staatlichen Krankenhaus

“Guten Morgen, was hätten sie gerne auf ihren Brot?”

Eine kleine, runzelige Frau im lila Kittel steht vor mir und schaut mich mit unruhigem Blick an. Es ist früh morgens, meine Haare stehen in alle Richtungen, ich habe es schon wieder vergessen, wo ich bin.

“Käse? Butter?”

“Ähh… Ich weiß es nicht, ich mache es mir selber drauf.”

“Nein, das geht nicht, Sie haben Bettruhe.” – sagt sie entschieden. Im ersten Moment verstehe in den Zusammenhang nicht.

“Aber mein Brot kann ich deshalb trotzdem beschmieren.”

“Nein, es geht nicht, wir haben kein Tablettsystem und Sie haben Bettruhe…also was wollen Sie auf ihrem Brot? ”

Sie klingt ungeduldig, wie jemand, die noch sehr viel zu tun hat. Ich versuche mit aller Kraft, die Situation zu begreifen.

“…Haben Sie Kaffee?”

“Ja, kann ich bringen…also, was möchten Sie Käse, Wurst?”

“Gestern Abend habe ich alles auf einem Tablett bekommen und…”

„Ja, aber jetzt geht es nicht, Sie haben Bettruhe.“

Ich weiß immer noch nicht worum es geht. Schließlich klärt sie mich auf:

„Das Büffet steht am Ende des Flures, da muss ich Ihnen die Brote so belegen.“

Jetzt dämmert es mir langsam. Bettruhe heißt hier, dass ich keine dreißig Schritte im langsamen Tempo bis zum Büffet laufen darf um mir selber etwas auszusuchen.

Gestern früh habe ich zehn Minuten lang geblutet und bin schwanger. Eine „dramatische Situation.“, wie ich es alle zehn Minuten zu hören bekomme. Jetzt blute ich nicht mehr und auch dem Baby geht es gut. Heute ist alles besser.

“…Dann bringen Sie mir Käse und Marmelade. Und einen Kaffee, bitte.”

Als sie endlich die nötige Information gekriegt hat, rast sie aus dem Zimmer. Ich bekomme einen Teller mit Scheibenkäse und Supermarktwurst, der Kaffee ähnelt einem lauwarmen Fußwasser aus der Pädiatrie. Zum Automaten darf ich nicht hinlaufen, ich habe ja Bettruhe und einen verkürzten Gebärmutterhals. Den hatte ich auch schon bei meinem ersten Kind und bin trotzdem überall hingelaufen, aber das zählt nicht. Ich habe ja gestern geblutet.

Noch während ich mein Brötchen esse, rast die nächste Schwester ins Zimmer: „Ich soll Sie zur Oberärztin mitnehmen, sie untersucht Sie nochmal…mit Bett“ – sagt sie zu ihrer Kollegin. Ich merke, dass ich dringend aufs Klo muss, und will aufstehen.

„Nein!“ – schreit die Schwester und hält mich fest.

„Soll ich ins Bett pullern oder darf ich aufs Klo?“

„Ach so, ich dachte Sie wollen aufstehen“ – sagt sie etwas irritiert.

„Ja, will ich auch, um aufs Klo zu gehen.“ Die Schwestern stehen herum, wie ein Computerprogramm, das sich kurzfristig aufgehängt hat. Ich sperre mich in die Toilette ein und versuche meine rot gefärbte Haarwucht zu bändigen. Sonderlich frisch sehe ich nicht aus. Irgendwie erinnere ich mich selbst immer öfter an meine armenische Oma, und das hat einen unangenehmen Beigeschmack. Ein Sympathieträger sieht so nicht aus, rabiat und streng mit schlecht gefärbten Haaren, und auch nicht mehr die Jüngste. In Frankreich wäre ich jetzt auch dann eine „Madame“, wenn das „Mademoiselle“ nicht gerade abgeschafft wäre. Eine Risikoschwangere von 39 Jahren, mit mehreren Abtreibungen hinter sich, die auch noch Attitüden hat und die Cortisonspritze ablehnt….Ich sehe mich mit den Augen des Personals und verspreche mir keine glänzende Zukunft in diesem Krankenhaus.

Als ich wieder aus dem Bad komme, ist die Errormeldung bereits aufgehoben, das Programm läuft weiter, und freundlich lächelnde Schwestern schieben das riesige Bett in den Flur, mit mir oben drauf. Die junge Assitenzärztin Namens Anna, die mir gestern „Schulmedizin pur“ versprochen hat, kommt mir lächelnd entgegen und zieht mich höchstpersönlich in den Ultraschallraum.

Die Oberärztin erscheint auch, rötliche Haare, Dauerwelle, offensichtlich hat sie ähnliche Schwierigkeiten, wie ich, ihre Mähne zu bändigen.
Ich werde gebeten mich „unten rum frei zu machen“ und „bequem“ im Gynäkologiestuhl platz zu nehmen. Die Situation hat mit Freiheit und Bequemlichkeit ungefähr so viel zu tun, denke ich, wie Posemuckel, wo ich jetzt wohne, mit den Champs Elysées, wo ich noch viel lieber wohnen würde. Die Oberärztin will die Untersuchung, die schon zwei Mal in zwei verschiedenen Krankenhäusern an einem einzigen Tag unternommen wurde, ein drittes Mal wiederholen um es „selber zu sehen“.

Während ich mit einem Ultraschallstab in der Vagina gefühlte halbe Stunde auf dem Stuhl herumliege und zuhöre, wie die Oberärztin der Assitenzärztin die Plazentalage erklärt (die müssen schließlich auch lernen, dass sehe ich ein), denke ich darüber nach, ob dieses ständige Rumgewühle da unten weniger Stress für meinen „verkürzten Gebärmutterhals“ bedeuten soll, als der ruhige Gang von 30 Metern bis zum nächsten Käsebrot.
Sie probieren am Ultraschall verschiedene Einstellungen aus, die Technikbegeisterung scheint in diesem Fach grenzenlos zu sein.

Nach der Untersuchung, die nichts Neues bringt, werde ich aufgefordert, mich „gemütlich hinzulegen“. Auf meinen Satz hin, dass ich auch gerne sitzen könne, werde ich auf die Dramatik meiner Situation hingewiesen. Also liegen. Die Oberärztin will mit mir über ein bestimmtes Thema reden, und das ist die Cortisonspritze. Diese Spritze, eine Routine bei Risiko auf Frühgeburt, scheint zum Dreh-und Angelpunkt meines Krankenhausaufenthaltes zu werden, seit ich dazu Nein gesagt habe, geht es nur noch darum.
Es ist Teil des Programms, es wird bei Risiko auf Frühgeburt immer angewendet und gehört zum normalen Ablauf. Das haben mir die Assistenzärztin und der Kinderarzt auch schon sehr ausführlich beschrieben, mit plastischen Details von langfristigen Behinderungen, Schlaganfall und Kindstod im gegengesetzten Fall.

„Wenn das Baby jetzt kommt, dann könnte es sein, dass es nicht atmen kann. Ihr Kind ist noch nicht lebensfähig.“

„Es kommt aber noch nicht.“ –erwidere ich stur, von einer inneren Überzeugung getrieben, die ich nicht erklären kann.

„Das können Sie nicht wissen.“

„Sie aber auch nicht.“

„…Sie müssen bedenken, dass Ihr Kind dann unter Umständen nach der Geburt die ganzen Medikamente bekommen und beatmet werden muss und das wird dann richtig Stress für sie, ein richtiges Trauma…“ Das Wort „Trauma“ betont sie besonders stark und guckt mich dabei an, als würde auf meiner Stirn eine Statistikkurve mit der Überlebensquote von Frühchen hängen.

„Es geht hier nicht um Sie” – sagt sie und das war mir bereits klar. „Ich bin jetzt die Anwältin ihres Kindes.“

„Ich glaube viel mehr, dass Sie die Anwältin Ihres Weltbildes sind.“

„…Sie hatten auch schon fünf ….“

„Abtreibungen“ – helfe ich nach.

„…Und wann war das letzte?“

“1997“ – antworte ich.

“…Ich will ja nur das Beste für Ihr Kind und es ist einfach so, wenn es jetzt zur Welt käme…“- Bevor sie nochmal das gleiche Horrorszenario schildern kann, falle ich ihr ins Wort.

„Ich habe verstanden worum es geht. Ich gehe nicht davon aus, dass es jetzt zur Welt kommt, vor allem, wenn ich liege.“

„ Wenn ihr Kind jetzt zur Welt kommt…“

„Es kommt nicht jetzt zur Welt. Ich weiss es.“

Sie schaut mich an, wie einen gefährlichen Irren.

„Ich glaube, Sie verstehen die Dramatik ihrer Situation nicht…“

“Ich sehe es nicht so dramatisch.”

“…Ich muss mich einfach auch rechtlich absichern, dass…”

„Geben sie es mir einfach schriftlich.“

„Sie hatten fünf Eingriffe, und daher kommt es dass die Plazenta so gewachsen ist, dass das jetzt ein Risiko bedeutet und jetzt geht es darum alles zu tun, dass Ihr Kind möglichst sicher zur Welt kommt.“

„Sie wollen mir jetzt sagen, dass ich selber schuld bin an der Situation.“

„Nein, aber durch die Eingriffe kommen da Veränderungen….“

„Ich habe schon ein Kind zur Welt gebracht, da war die Plazenta völlig in Ordnung.“

„Da hatten Sie Glück.“

„Also mit Glück oder Pech hat das auch zu tun.“

„Das schon, aber das Risiko…“

„Es gibt etliche Frauen mit dem gleichen Befund, die vorher keine Abtreibung hatten.“

„Sie können aber auch im Internet nachlesen, dass statistisch gesehen das Risiko erhöht ist…“

„Wissen Sie was Sie machen? Sie machen mir Schuldgefühle und jagen mir Angst ein, damit ich alles so mache, wie sie es wollen. Sie sagen, Sie wollen mich nur informieren, aber eigentlich setzen Sie mich mit allen Mitteln unter Druck und versuchen mich psychisch zu erpressen.“

Einen Moment ist sie perplex.

„Ja, ich mache Druck, aber nur im Interesse ihres Kindes… wenn wir uns irgendwo in einer Praxis treffen würden und die Situation nicht so dramatisch wäre, aber ich muss noch mal betonen, es ist eine dramatische Situation, in der Sie sich befinden.“

„Und Sie glauben, durch mantramäßiges Wiederholen wird so etwas besser? Sie lassen mich keine 30 Meter bis zum Frühstücksbuffet laufen, um mich zu schonen, aber so ein Gespräch mit Ihnen ist der wesentlich größere Stress, dass kann ich garantieren.“

Sie versucht ein bisschen locker zu lassen, wie ein Pittbull, der gerne auf sein Herrchen hören und den Hals des Mädchens loslassen würde, nur ist es leider zu spät, die Kieferstarre ist schon eingetreten.

„Ich weiß, dass Sie nur das Beste für Ihr Kind wollen, aber…“

„Selbst das können Sie nicht wissen. Vielleicht will ich gar nicht das Beste für mein Kind.“

Die Ärztin schaut mich entgeistert an.

„ Und vielleicht bin ich böse.“

Sie springt auf, rennt zur Tür und bespricht sich mit den Schwestern, wie ich zurücktransportiert werde.

Ich sitze auf dem Bett, wie eine Riesenkröte die gerade aus dem Schnabel eines Storches gefallen ist, und wundere mich über meine Entschiedenheit.

Ich weiß nicht ob ich richtig liege oder ob ich verrückt und unverantwortlich bin, aber eins weiß ich: wenn man mich versucht durch Angst und Schuldgefühle zu etwas zu zwingen, muss ich einfach instinktiv Widerstand leisten. Wahrscheinlich habe ich doch zu lange in einer Diktatur gelebt.

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Karády Katalin (Der Dichter 4)

Ich stehe vor einer Telefonzelle, es ist kalt und es regnet. Meine Freundin Kinga hält den Hörer in der Hand. Sie ist einen Kopf größer als ich, ihren Locken ragen in alle Richtungen, ihre riesige Nase thront wie eine Furcht einflößende Oberschullehrerin über ihrem Gesicht. Ich liebe Frauen mit großen Nasen, und Kinga ist meine beste Freundin. Mein Blick fällt auf ihre schweren Stiefel, die so gar nicht zu ihren weiblichen Kurven passen, ihre „Bürgerstiefel“, die sie auf dem Flohmarkt gekauft hat um damit ihren herumhurenden Freund zu beeindrucken. Sie liest die Nummer von einem dreckigen Zettel ab, den ich seit Monaten in meiner Tasche trage und wählt. Es ist kurz vor Sonnenaufgang, aus dem Club hinter uns strömen besoffene Menschen.

„Hallo“ – sagt Kinga in die Sprechmuschel, mit gestellt tiefer Stimme – „Katalin Karády hier, ich möchte den Dichter sprechen.“ Noch bevor ich mir vorstellen kann, wie es ist, als nichtsahnende Ehefrau morgens um fünf von einer längst verstorbenen Schlagersängerin geweckt zu werden, ist schon der Dichter dran.

„Wir sind vor dem Club „Das verbotene A“ und du kommst jetzt her“ – sagt Kinga mit einer Stimme, die alle Ehefrauen dieser Welt im Nebel der ultimativen Bedeutungslosigkeit verschwinden lässt, und der Dichter willigt schnell und leise ein. Kinga legt auf.
„Er kommt“ – die Regentropfen glänzen in ihrem dichten Haar, ihr Lachen ist laut und heiß wie das Fegefeuer. Sie läuft zurück in den Club, ich setze mich auf die nasse Bank, und zünde mir eine Zigarette an. Um mich herum die Budapester Hauswände, grau und wunderschön, ganz ohne Putz, alle Kriege sichtbar, jedes einzelne Kugelloch, der zweite Weltkrieg, neunzehnhundertsechundfünfzig, offene, unverheilte Wunden egal wohin der Blick fällt. Auf einmal sind die ganzen Geschichten da, mit denen ich aufgewachsen bin, der Luftschutzkeller, die Russen, meine Uroma in ein schwarzes Tuch gewickelt auf einem Kohlehaufen, damit sie unsichtbar wird, die spiritistischen Séancen im Bombenhagel, die Pferdebuletten, mein Vater als kleines blondes Kind im Schoß seiner überforderten Mutter, die ihn schüttelt und schreit: „versprich mir dass du kein Mörder wirst!“ und Katalin Karády, die legendäre Chansonsängerin, mit dem Lied :
„Umsonst flüchtest du, vergeblich rennst du weg, dein Schicksal wird Dich einholen.“ Das Lied begleitete die Häuserkämpfe in Budapest, während den letzten Kriegstagen, die Russen ließen ihn spielen aus der bereits gefallenen Burg

„Ich bin in einen verheirateten Mann verliebt“ – sagte ich meiner wunderschönen Großmutter mit tausend Furchen im Gesicht, sie verbrachte fünfzig glückliche Ehejahre mit ihrem Mann, meinem Großvater, fand ihn am Ende des Krieges durch einen Traum wieder, er lag verletzt in einem Budapester Luftschutzkeller, sie rettete sein Leben, weil sie ihn mit einer Schubkarre nach Hause zog, zwanzig Kilometer zu Fuß, durch die Trümmerhaufen über die halb zugefrorene Donau ohne Brücke, zwischen marodierenden Russen und potentiellen Vergewaltigern brachte sie ihren Mann in Sicherheit. Mein Großvater, früher Stammgast im Bordell, Langzeitstudent , Pokerspieler und Pianist im Casino verwandelte sich in den besten Ehemann und Vater von drei Kindern, den ich je erlebt habe, in einen erfolgreichen Richter und Präsidenten des Gerichtshofes für diese Frau, „die schönste und tollste, die mir je begegnet ist.“ Er entging der Kriegsgefangenschaft, weil er den russischen Offizieren eine ganze Nacht lang die Chansons von Katalin Karády vorspielte, und sie ließen ihn ziehen. Ich fragte mich oft, was das Geheimnis ihrer Ehe war, ich weiß es nicht so genau, jedenfalls hörte er nie auf, Klavier zu spielen, und pokerte mit seinen Freunden und Kindern und Enkelkindern.
„Lasst uns durch die Müllerstraße laufen, damit ich das Bordell wenigstens von außen sehen kann“ – pflegte er zu seinen Kindern zu sagen, im Kommunismus, als es schon lange keinen Puff mehr gab und kein Casino, und Karády in der Namenlosigkeit der amerikanischen Emigration verschwunden war.
„Ich bin in einen verheirateten Mann verliebt“ – sagte ich, und meine Oma lachte vergnügt– „Was macht das schon, verheiratet zu sein? Das heißt gar nichts.“
Ich war schockiert, ich wollte von ihr beschimpft werden, sie sollte mich davon abgehalten, diesem Mann hinterher zu laufen, aber sie sagte „Ehe heißt nix, nur die Liebe zählt “ und ich erinnerte mich, dass sie meinen Opa im Casino kennengelernt hatte , sie eine berühmte Schönheit, groß und schlank, er klein und dick mit einer krummen Nase, einer, der während des Krieges dauernd seinen Pimmel vorzeigen musste, um nicht auf den Judentransport zu kommen, dieser Mann forderte meine Oma zum Tanzen auf, und kam ihr dabei gerade bis zur Brusthöhe, torkelte, lallte und trat ihr auf die Füße. Als meine Oma sich nach dem Grund erkundigte, warum sich ein intelligenter junger Mann so betrinkt, antwortete er mit weinerlicher Stimme: „Ich habe einen großen Kummer… ich habe die Frau meines besten Freundes gefickt.“

Er hat dabei tatsächlich das Wort „gefickt“ benutzt, keine Selbstverständlichkeit 1930 auf einem Ball, aber meine Oma erwiderte ohne mit der Wimper zu zucken: „Da sehe ich keinen Grund sich zu quälen, so etwas kommt in den besten Familien vor.“ Von dieser Reaktion wurde mein Opa sofort hellwach und wusste, dass ihm soeben die Frau seines Lebens begegnet war.

Der Dichter steht vor mir und wir fallen uns in die Arme. Wir hatten uns seit Ewigkeiten nicht gesehen, im Sommer waren wir kurz davor, zusammen nach Paris zu fahren, als seine Frau in die Küche kam, leichenblass, mit seiner Jacke in der Hand und fragte: „Wann genau willst du nach Paris?“ „Ende August“ antwortete er möglichst ruhig und rührte weiter an einem Topf voller Pfirsichknödel, während seine Frau meinen Brief mit der Pariser Adresse stumm aus seiner Jackentasche zog und dann in Ohnmacht fiel.

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