Manche sterben, manche sind Fisch (Der Dichter 5)

„Komm rein“, sage ich, und es ist so, als wäre gerade ein Ufo gelandet, ausgerechnet hier, in dieser trostlosen Plattenbaugegend mitten in der rumänischen Provinz, kurz nach der Wende.

Wenn ich ein Ufo wäre, dann würde ich auch hier landen, denke ich, als kleiner grüner oder großer blauer Mann, in einer Gegend nämlich, wo sowieso alles auffällt, das neu oder fremd ist, selbst eine Packung Marlboro ohne Filter. Hier könnte mich keiner von einem besoffenen Deutschen oder Holländer unterscheiden, und jeder würde mich am Kiosk bedienen, auch als Marsmännchen, ohne gleich die Ufo-Meldestelle anzurufen, Hauptsache sie können mir etwas andrehen. So stand der Dichter vor meiner Tür, als teils grüner – und teils blauer Mann, Zwerg und Riese gleichzeitig, entfernte Mondlandschaften in seinen Augen, der Mund offen, wie eh und je.

Seit einigen Monaten hatte ich ihn nicht mehr gesehen, nach massiven ehefraulichen Selbstmorddrohungen brach er den Kontakt zu mir ab. Um die Zeit des Liebeskummers sinnvoll zu gestalten, vertrieb ich mir meine Tage mit einem schönen, sonnengebräunten Rumänen.

„Wenn du  einen Rumänen oder einen Neger heiratest, bist du nicht mehr meine Tochter“ – sagte mir mal mein Vater und daran hat mich auch nur das mit dem  „Neger“ gewundert, weil ich bis dahin nur einmal  einen „Neger“ gesehen hatte, irgendeinen afrikanischen Medizinstudenten, dessen Anblick auf dem Hauptplatz in den 70ern für Verkehrstau sorgte. „Neger“, das dürfe man auf Ungarisch sagen, behauptete mein Vater, das sei nur in Amerika abwertend, hier bei uns aber ganz normal. „Political Correctness“ war eben damals schon etwas, das einer vom Balkan nicht verstehen konnte, und heute ist es immer noch so, und so wird das auch in hundert Jahren sein, Demokratie hin oder her, bei uns wimmelt es nur so von Tzigans, Walachen, Neger, Scheißnazis und Kommunistenschweinen und wie sie alle mit ihren Kosenamen heißen – ich suchte mir also einen rumänischen Neger, um mir ein Gleichgewicht zu verschaffen, nach vielen Jahren als Heimatgedichte-Rezitierende,  folkloreträchtige „Ungarin“ aus der Kirchengemeinde.

P. war wirklich sehr dunkel, mit riesigen Lippen und einer breiten Nase. Man fragte sich bei dem Anblick seiner Eltern woher das alles kam, und ich beäugte die Mutter misstrauisch - vielleicht waren das semitische Gesichtszüge, er war nämlich halb Jude, was die Sache überhaupt nicht besser machte. Nach dem Motto: ein Schwarzer sitzt in der New Yorker Metro und liest „Jerusalem Post“ worauf ein Mann ihn fragt „Sagen Sie, einfach nur Neger, reicht das nicht aus?“ Ich jedenfalls wollte der blutleeren und hochintellektuellen ungarischen Literaturnoblesse entkommen, dem gebildeten Dichter mit seinem blassen Gesicht, dem der Jugendstilstuhl vom Kaffeehaus schon am Hintern festgewachsen war.

Seitdem ich P. kannte, gab es jeden Abend Party, saufen und tanzen bis zum Umfallen, er sang „Hit the Road Jack“ wie ein Teufel und tanzte dazu über die verschneiten Straßen der Kleinstadt, die Leute blieben stehen und applaudierten, und wir stimmten im Chor ein: „Hit the Road Jack“, wovon ich nur verstand, dass jemand abhauen und nie wiederkommen sollte, und so fühlte ich mich auch, als hätte mich jemand aus dem Land geschmissen, ich sah, ja beschwor dabei förmlich diese „Road“, an deren Ende Paris lag oder New York oder Berlin.

P. zog nach der ersten Nacht bei mir ein mit allen seinen Puppen und seiner exzellenten Plattensammlung, mit seinem Palestinensertuch, das nur er in ganz Rumänien besaß, denn P. hatte auch schon ein Jahr in Berlin gelebt, in einem besetzen Haus, und hatte im Café „Seifen und Kosmetik“ in der Schliemannstraße gekellnert, dort zusammen mit anderen rumänischen  Tresenkräften das Schild „We don´t speak german“  aufgehängt, was die lesbische Besitzerin des Lokals sehr lustig fand, und ich konnte weder verstehen, was ein besetztes Haus war, noch warum ein Café wie eine Drogerie hieß, vor allem nicht, was „lesbisch“ ist und wieso die es so lustig fand, dass die Bedienung in ihrem Laden kein Deutsch spricht. In Rumänien hätte es dafür eins auf die Mütze gegeben und zwar mit einem richtig dicken Knüppel, dass es weh tut. Ich wurde damals, ohne es zu merken, unheilbar und lebenslänglich mit dem Berlin-Virus infiziert.

Schon auf dem Hauptplatz hörte ich die hohe Stimme einer Sängerin, die ich nicht kannte: „…Well, I got a brand new pair of roller skates / You got a brand new key / I think that we should get together and try them out you see…“

Der Gesang wurde lauter, als ich die König-Matthias-Statue hinter mir ließ und in unsere kleine Straße einbog, die aus unerfindlichen Gründen den Namen eines französischen Astronauten trug, und ich begriff, dass die Musik aus meiner Wohnung kam. Aus meiner kleinen WG mit den wackeligen Wänden, wo die Gäste auf dem Bauch durch den Hof kriechen, damit die Vermieterin vom Küchenfenster aus nicht sehen kann, wie viele es sind, und als ich reinging war keiner da, die unbekannte Platte lief auf einem fremden Plattenspieler, ich verliebte mich sofort in die Stimme, die aus dem Hals von Melanie Safka kam, wie mir die Schrift auf der Scheibe verriet, und als ich mich umschaute, sah ich überall Marionetten, Holzfiguren in meinem Bett, auf dem Tisch, neben dem Herd, an den Wänden, überall grinsten, schrien, weinten und lachten die Puppen, die Dämonen, Götter, Teufel und Naturgeister, Hänsel und Gretel, Rotkäppchen und die Schneekönigin.

P. war Puppenspieler, und an dem Vormittag, als der Dichter mit seinen beiden Koffern auftauchte, hatte er gerade seine Sonntagsmatinée für Kinder. Ich sah den Dichter an und wusste, dass ich anderthalb Stunden Zeit hatte um aus der Zwickmühle rauszukommen.

„Komm rein“, sagte ich, er trat zögernd näher, trug seine Koffer hinein und setzte sich in die hoffnungslos verdreckte Küche, schweigend wie immer. Ich zündete mir eine Zigarette an. Sicherheitshalber fragte ich nach seiner Frau, obwohl ich sofort wusste, was passiert war. „Ich habe sie verlassen“, antwortete er, wie erwartet, es reichte ein kurzer Blick auf seinen Koffer, um zu wissen, dass er nicht so schnell wieder abreisen wollte, und ich merkte, wie ich gravierende Fluchtgedanken bekam. Meine Mitbewohnerin Rita erschien in der Tür, blass und verschlafen, in ein überdimensional großes Männershirt vom Chinamarkt gehüllt, ich sah, dass ihre Hände zittern. Sie begrüßte den Dichter übertrieben freundlich, bot ihm einen Kaffee an, die Tasse klimperte unerträglich in ihrer Hand und der Dichter schaute mich verwundert an. Ich versuchte möglichst freundlich und unauffällig zu lächeln, während ich verzweifelt darüber nachdachte, wie ich die Marionetten und das andere Zeug schnell aus meinem Zimmer verschwinden lasse. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, zog Rita unauffällig die Tür hinter sich zu. Ich wusste, dass sie jetzt mit rasender Geschwindigkeit die Marionetten und die männlichen Unterhosen aufsammelte und irgendwo in den Untiefen eines alten Schrankes versteckte.

Der Dichter sah erschöpft aus. Die Fahrt von Budapest in die siebenbürgische Kleinstadt dauerte mindestens zehn Stunden, davon fünfhundert Kilometer auf engen Landstraßen voller Schlaglöcher, dazu stundenlange Warterei an der Grenze, wo tausende Menschen ihren absurden frühkapitalistischen Geschäften nachgingen, der florierende Schwarzhandel den Verkehr lahmlegte und die Wiesen bis nach Szolnok vollgeschissen waren, weil es keine öffentliche Toiletten gab.

Er wolle sich kurz hinlegen, sagte der Dichter, in dem naiven Glauben gefangen, er sei endlich seinem Herzen gefolgt, habe nach dem Knast einer viel zu jung geschlossenen Ehe den Weg in die Freiheit eingeschlagen, und irgendwie traute ich mich nicht, ihm diese Illusion zu nehmen, obwohl ich es bereits ahnte, dass diese Sache nicht mehr gut ausgehen könne. Ich hatte das ulkige Gefühl, seine Gedanken zu lesen, seine Vorstellung vom wilden Leben, das er hier anfangen würde, in der kaputten, rumänischen Vorstadt, mit Schnaps, Gipsymusik und einer schwer gestörten Neunzehnjährigen, die sich innerlich schon längst auf die „Road“ in die weite Welt gemacht hatte, Pariser Cafés und Berliner Clubs vor Augen. Immerhin ist er erst dreißig, dachte ich, andere großen Literaten kamen erst kurz nach dem Eintreten der partiellen Altersimpotenz auf diesen Trip, und gestörte Neunzehnjährige gab es auch immer genügend.

Wir müssen hier weg, denke ich, sonst sieht der ahnungslose Dichter bald wieder wie die Baba Yaga aus und hat umsonst seine Vorderzähne so schön machen lassen. Plötzlich nervt es mich, dass sein Mund ständig offen steht, ich finde auf einmal, dass er sehr dümmlich aussieht, was mir das ganze vergangene Jahr, Hals über Kopf verliebt, natürlich nicht aufgefallen war. Jetzt entdecke ich den Ansatz eines Doppelkinns, Pickel, Mitesser, fettige Haut ungewaschene Haare.

„Van aki meghal, van aki meg hal“,  der Spruch aus dem Budapester Literaturcafé fällt mir ein. Da hält er regelmäßig seine Lesungen, und ich trieb mich da manchmal herum, in der Hoffnung ihn zu treffen. „Manche sterben, manche sind Fisch”, hieße das auf Deutsch, ein Spiel mit dem Wort „hal”, das sowohl „sterben” als auch „Fisch” bedeutet, und mir fällt auf, dass er nie etwas sagt, lautlos atmet und mich mit runden Augen anguckt…Ich bekomme einen Schweißausbruch.

Ich muss jetzt dringend etwas unternehmen, ich halte die Spannung nicht aus, das Gewicht der Erkenntnis, dass jemand sich innerhalb einer Minute aus Romeo in einen halbtoten Fisch verwandeln kann, der ganz schön stinkt und das alles nur, weil ich gerade erfahren habe, dass unsere hoffnungslose Liebe jetzt auf einmal hoffnungsvoll werden soll, dass ich die Frau des Dichters werden könnte, seine Muse, das Kürzel R. vor seinen schwer verständlichen, aber tatsächlich sehr schönen Gedichten. „Für R.” oder „Meiner Frau R. in Dankbarkeit”, ich höre die Küchenuhr schreiend ticken, nichts wie weg, denke ich, einfach nur weg… aber wie?

Ich bin verwirrt, fühle mich verkatert, wie nach tagelangem Besäufnis, mit Acetongeschmack im Mund und nikotinschwarzen Fingern, die Lunge schmerzend bei jedem Atemzug, die Welt asphaltgrau und zugemüllt. Ich weiss nicht, was das ist, ein Vorschatten, ein Gefühl, das etwas Grundsätzliches nicht stimmt mit dieser romantischen Liebe, ein Konstrukt das gerade einzustürzen droht. Etwas ist gravierend faul, wenn der, der gestern noch Romeo war, heute nicht mal als Brathering durchgeht.

Viele Jahre später sitze ich neben dem rauchenden Trümmerhaufen meines Liebeslebens, bis der Fisch, der an dem Tag am Küchentisch gestorben ist, wieder zum Leben erweckt wird und langsam Fahrrad fahren lernt, Romeo und Julia Freud zu Ende gelesen haben und die gesamte Truppe in der Postpostmoderne angekommen ist.

Aber das passiert erst später, jetzt strahle ich von einer plötzlichen, genialen Idee getrieben den Dichter an und sage: „Ich will dich meinen Eltern vorstellen!” Sein Gesicht hellt sich auf, der Köder ist gelegt und ich fahre fort: „Lass uns sie besuchen… äh, sie wohnen nur ca 100 km von hier entfernt… wir trampen… Am besten, wir gehen jetzt gleich los! Da kannst du dich dann auch ausruhen.”

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7 Antworten auf Manche sterben, manche sind Fisch (Der Dichter 5)

  1. Mika sagt:

    Melanie Safka – wie schön sie zu hören. Nach langer Zeit…die gleiche Magie. :-)

  2. WhiteHaven sagt:

    Sau gut geschrieben, bissig UND mit Humor, das mag ich…
    liebe Grüsse
    WhiteHaven

  3. Sofasophia sagt:

    was gaaanz anderes. da ich deine mailadresse nicht habe/nicht finden kann: machst du bei meiner umfrage hier mit?
    http://sofasophia.files.wordpress.com/2012/06/bloggen-als-neues-literaturgenre.pdf
    wäre schön!
    herzliche grüsse
    soso

  4. Sherry sagt:

    Wie konntest du ihn am Ende nur so an der Kehle packen und hoffen, dass er sich verzieht? Ich musste echt lachen.

  5. Boris Kálnoky sagt:

    Ich glaube Du findest langsam das geeignete Schuhwerk für diesen Weg des Schreibens, Réka. Da festigt sich ein Talent, speziell in dieser Episode, und zum ersten Mal kann ich es kaum erwarten, die nächste zu lesen – ich bin überzeugt, dass es noch besser wird. Run baby run!

  6. Beatrice sagt:

    schön, dass du vom berlin-virus infiziert wurdest in transsilvanien. der umgekehrte vampirbiss. lass dich, uns beißen von der stadt.
    wer weiß, ob wir uns getroffen hätten, wenn nicht.
    vv virus

  7. Sofasophia sagt:

    das ist ja mal … ach, ich weiss nicht, was sagen. man möchte dich einfach immer weiter und weiter lesen!!!

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