Der Dichter

Es ist noch nicht einmal zehn Uhr am Morgen als es an der Tür klingelt. Pilo ist schon seit einer halben Stunde weg, er hat jeden Sonntag Vorführung im Puppentheater. Ich trotte verschlafen zur Tür, steige über mehrere Haufen dreckiger Unterwäsche, trete aus Versehen gegen einen überfüllten Aschenbecher und lasse einige Bierflaschen umfallen. Aus der Küche strömt mir ein Geruch entgegen wie von einer Tonne fauler Socken, das muss vom Abwasch kommen, den ich vor drei Tagen eingeweiht und immer noch nicht gespült habe. Ich halte mir die Nase zu. Durch die verschmierte Fensterscheibe am Ende des Korridors ist ein unendlicher Wald grauer Plattenbauten zu sehen, weit über den Horizont hinaus.
Ich öffne die Tür. ER steht mir gegenüber mit weiß gebügeltem Hemd unter seinem schwarzen Lodenmantel und dunklen Budapester Poetenlöckchen um seine Stirn, der Mund wie immer ein bisschen offen, als könne er nicht aufhören sich zu wundern, dabei bin ich jetzt gerade diejenige, der die Kinnladen bis zum Boden klappen. ER ist „Der Dichter“, so nennen wir ihn unter uns, und er hat zwei Koffer dabei.

Den Dichter habe ich ein Jahr zuvor auf einer Dorfhochzeit kennen gelernt, in der Nähe unserer Studentenstadt. Es war Winter und wir fuhren wie üblich aus lauter Langeweile aufs Land und suchten uns eine Hochzeit, wo wir die ganze Nacht umsonst essen und trinken konnten. An so einem Tag wurde nie jemand ausgeladen, das ging gegen die Sitte, das wäre Tabubruch gewesen. Im Gegenteil, die Dorfleute freuten sich, dass die Studenten vorbeikommen, und es gab immer Kohlrouladen und Sülze und Hühnergulasch, Schnaps und Wein, Gesöff ohne Ende. Dorfhochzeiten waren unsere Technopartys Anfang der neunziger Jahre in Rumänien. So gegen zwei Uhr in der Nacht war da kein Mann mehr nüchtern, alles torkelte durch die Gegend, sang schief und leidenschaftlich, möglichst lauter als die Geige und kotzte in die Ecke. Nach einem Liter siebenbürgischen Selbstgebrannten möchte keiner mehr in fremden Kulturen nach halluzinogenen Substanzen herumsuchen.
Also irgendwann in der Nacht, als ich nicht mehr gerade gucken konnte, sah ich plötzlich zwei meiner Kommilitonen gegenüber auf der Bank sitzen. Sie waren wie aus dem Nichts aufgetaucht und grinsten mich gut gelaunt an. Einer sagte, sie wären „gerade erst gekommen“- und als ich wissen wollte, wie sie das genau meinten, da lachten sie dreckig und ich auch, und dann merkte ich, dass sie jemand mitgebracht haben. Ein Fremder saß neben ihnen, groß gewachsen, schlacksig und unglaublich sauber. Er guckte verlegen. Sein Hemd, seine Haut, seine Zähne und seine Hose, alles makellos weiß. Mitten im der dunkelbraunen Schlammwüste sah er vollkommen unwirklich aus.
Ich hatte zu diesem Zeitpunkt seit Ewigkeiten keinen Mann mehr ohne Zweitagebart, mit sauberen Zähnen und weißen Fingernägeln gesehen. Dafür studierte ich an der falschen Uni. „Philologie“ – das hieß bei uns täglich eine Flasche Schnaps, zwei Schachteln filterlose Zigaretten und Bruchbuden als Untermiete. Gebadet wurde höchstens alle fünf Wochen, wenn man mal die Eltern besuchte. Ich hatte sogar einen Kollegen, er war der genialste vom Jahrgang und studierte das zweite Mal wieder alles von vorne, weil er wegen starken Zweifeln mal alles geschmissen hat – er hatte gar keine Toilette in seiner Wohnung, nicht mal ein Plumpsklo im Garten, und schiss jeden Morgen in eine Plastiktüte um sie unterwegs zur Uni vor dem ersten Philiosophievortrag in den Müll zu schmeißen.
„Wer ist das denn?“ – fragte ich laut meine Kumpels und zeigte mit dem Finger auf den weißen Mann. Höflichkeiten lagen da bereits Jahre hinter uns. „Der Dichter aus Budapest”, antwortete mein Lieblingskollege schelmisch lächelnd, und zwinkerte. Danach strich er über sein pickeliges Gesicht und wieherte wie ein Pferd – “Ein ganz toller Dichter. Er hat heute die Lesung gehalten“.
Dichter, die waren bei uns so etwas wie Popstars. Oder Hollywood-Legenden. Jeder fand sie geil. Deshalb war jeder zweite Mann ein Dichter. Ich kannte alleine in meiner engen Umgebung mehrere Dutzend davon. Aber ich kannte keinen mit einer weißen Hose. Sein Anblick zwischen kotzenden Bauern, war wie eine brennende Kerze nach stundenlangem Stromausfall in einem rumänischen Fahrstuhl.
Ich stand auf, ging zu ihm rüber und küsste ihn ohne Vorwarnung direkt auf den leicht geöffneten Mund. Er sah mich erstaunt an und erwiderte den Kuss ohne viel zu fackeln. Wir bewegten uns danach nicht mehr vom Fleck, bis die Sonne aufging und uns jemand aufforderte, in einen Bus zu steigen, der bald in die Stadt fahren würde. Erst dann hörten wir mit der Knutscherei auf. Geredet haben wir kein einziges Wort.

Als ich aufwachte, parkten wir bereits auf dem Hauptplatz unserer Kleinstadt. Der Motor brummte noch und der Bus leerte sich langsam. Der Dichter schlief neben mir, seinen Kopf leicht auf meine Schultern gekippt. Ein zarter und stetiger Speichelstrom floss aus seinem Mund. Es war schon schreiend hell und mein Schnapspegel hatte drastisch nachgelassen. Ich legte seinen Kopf zurück an die Stuhllehne und stieg hastig aus dem Bus.
Ich eilte im Laufschritt die nasse Straße lang, überall Matschspuren, verdreckter Bürgersteig. Seit Wochen hatte es geregnet. Der Dichter versuchte mich einzuholen. „Wie heisst du?” hörte ich ihn schwer atmend hinter mir herlaufen, aber ich hielt nicht an. Irgendein Instinkt sagte mir, dass ich jetzt und nicht später das Weite suchen und mich auf gar keinem Fall umdrehen sollte. „Wie kann ich dich wiedersehen?“ – hörte ich ihn weiter – „Ich sitze jeden Donnerstag im Café „New York“ in Budapest.“ Ich lief weiter und hörte seine Stimme langsam in dem quälenden kleinstädtischen Morgenverkehr verklingen zwischen tausend Schlaglöchern und dem Quietschen einer historischen Straßenbahn.

Fortsetzung folgt

Dieser Beitrag wurde unter hausdrachen abgelegt und mit , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

4 Antworten auf Der Dichter

  1. Katika sagt:

    Ich habe den Dichter vor einigen Wochen – urplötzlich und unangemeldet – auf einer Party getroffen. Er ist ein sehr guter Freund von meinem Liebsten, schon lange, seit den Unizeiten. Ungarn/Budapest ist ein kleiner Kaff (das geniesse ich nach Deutschland sehr), das muss man dazu noch sagen, und mein Vater hat damals die beiden jungen Studenten an der Uni unterrichtet und dem Dichter bei seinen ersten Publikationen sehr viel unterstützt. Man kennt sich hier, und selbst wenn nicht, dann doch irgendwie, irgendwoher, selbst wenn man inzwischen 15 Jahre mal weg wahr.
    Mein Liebster hat ihn mir und mich ihm vorgestellt, der Dichter hat mich sehr lange angeschaut und dann nur leise gesagt: „Unglaublich.“
    Er geht nicht mehr ins Kaffeehaus New York, er ist der Autor der derzeitigen erfolgreichsten ungarischen Seifenoper, die im TV gespielt wird, er wirkt nüchtern, ausgeglichen und vernünftig und ist immer sehr beschäftigt.
    Es ist interessant, diese alte Geschichte zu lesen, von einem früheren Leben, die jetzt so fern ist…

  2. Ich freu mich drauf. Auf die Fortsetzung.

  3. Sofasophia sagt:

    was ein cliffhanger :-)
    gut erzählt und so anschaulich, dass ich alles riechen kann …
    bin gespannt, wie es weitergeht!

Hinterlasse eine Antwort

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

*

Du kannst folgende HTML-Tags benutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <strike> <strong>