Fünf Minuten

Ich wusste sofort, dass etwas nicht in Ordnung war, als ich sie früh morgens vor dem Spiegel vorfand, wie sie sich die Haare toupierte. „Ich habe schon Wehen“ – bemerkte sie, wie nebenbei, nahm ein Haarbüschel nach dem anderen zwischen die Finger und kämmte sie mit energischen Bewegungen, bis jedes einzelne Haar zu Berge stand.
„Tut es sehr weh?“ – fragte ich besorgt, aber sie zuckte die Achseln, nahm einen Lippenstift und zog sich die Lippen knallrot. „Nöö. Zieht nur ein bisschen.“ Sie strahlte eine Entspanntheit aus, als wäre die Geburt kaum mehr als eine langweilige Routineuntersuchung beim Zahnarzt, wo der am Ende sowieso keinen kaputten Zahn findet. Mein Vater lief im Wohnzimmer nervös auf- und ab.
„Ist es nicht ein bisschen zu früh?“
„Doch. Zwei Monate zu früh“ – sagte meine Mutter und es klang wie eine sehr gute Nachricht.
Mein Vater wurde noch unruhiger.
„Soll ich schon mal den Krankenwagen rufen?“
„Quatsch. Ich bin noch nicht fertig mit dem Schminken.“
Ich setzte mich auf die Toilette und beobachtete meine Mutter, die seit Monaten das erste Mal gut gelaunt war. Ab- und an zuckte sie ein wenig zusammen, aber sie schminkte sich gründlich zu Ende, zog ihre schwarzen Lackschuhe an, ihr schickes Schwangerenkleid, das sie extra hatte nähen lassen von unserer buckeligen Näherin, wahrscheinlich für diesen Tag. Ihre Absätze waren ungefähr so hoch wie der Stiel meiner Tischlampe. Sie verließ mit eleganten Schritten das Bad, blieb im Wohnzimmer stehen und sagte:
„Jetzt kannst du ein Taxi rufen. Das sind schon die Presswehen.“
„Presswehen“- dieses Wort hat sich bei mir eingebrannt und ich fragte mich damals schon, ob das nicht etwas mit Pressen zu tun haben müsse, aber meine Mutter sah gar nicht nach „pressen“ aus. Sie stand ganz entspannt herum und wartete.

Als ich dreißig Jahre später in den Presswehen lag und trotz monatelanger „Atmen- und Tönen während der Geburt“ Kurse, wie ein Schwein schrie und mich drei Leute festhalten mussten, da sah ich meine Mutter in schwarzen Stöckelschuhen vor mir, voll geschminkt und entspannt, und habe mich so gewundert, dass die Wehen sofort aussetzten und eine Stunde wegblieben. Ich saß im Geburtshaus im Bett, aß Erdbeeren und konnte mit dem Finger den Kopf meines Kindes schon spüren. Ich war fest entschlossen keine einzige Wehe mehr zuzulassen und hier bis in die Unendlichkeit Erdbeeren zu essen, als die Hebamme mit bedrohlicher Stimme zu mir sagte:
„Steh auf!“
„Nein, will ich nicht“
„Steh bitte auf, die Wehen müssen wiederkommen.“
„Nein, es tut zu doll weh“
„Geburt tut weh.“ – sagte die Hebamme ernst und ich fragte mich warum mir meine Mutter immer gesagt hat, sie würde gar nicht weh tun.

Nachdem meine Eltern mit der Taxi wegfuhren, gab mir mein Opa Frühstück. Er sagte, wenn wir Glück haben, ist das Baby vielleicht schon am Nachmittag da, wenn ich aus der Schule komme. Dann half er mir beim Anziehen und machte mir die Pausenbrote, und als wir losgehen wollten, sahen wir meinen Vater durch den Hof nach Hause laufen.
„Sie ist da, es ist ein Schwesterchen“ – sagte er und strahlte – „Bisschen klein, aber ganz gesund!“

Als sie beim Krankenhaus ankamen, das heißt, fünf Minuten nachdem sie losgefahren sind, war der Kopf meiner Schwester schon draußen. Während sie meine Mutter die Treppen hochtrugen, kam der Rest. Meine Schwester wurde geboren noch bevor jemand es geschafft hätte meiner Mutter die Stöckelschuhe auszuziehen.
Sie hat meine Schwester in fünf Minuten offizieller Geburtszeit zur Welt gebracht. Nicht mal ihre Frisur ist dabei kaputtgegangen.

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8 Antworten auf Fünf Minuten

  1. Beatrice sagt:

    liebe réka,
    ich wünsche dir auch gesegnete 5 minuten
    in deinem gesegneten zustand

  2. Erzs sagt:

    Die zweite ist immer leichter, habe ich mir sagen lassen. :-)

  3. Boris Kálnoky sagt:

    Fast hätte ich gesagt, dass Selbstbeherrschung damals noch als positiver Wert galt. Aber dann erinnerte ich mich, dass es um Hausdrachen senior geht :P

    Und so lieber ein anderer unglaublich tiefer Gedanke: Ich überlegte gerade, was dazu beiträgt, tolle Menschen hervorzubringen. Eine Zutat sind Eltern, die so eigen sind, dass man es einfach nicht fassen kann, im Positiven wie im Negativen, und deren Menschlichkeit so echt ist, dass man sein Leben lang nach dieser Qualität sucht.

    Denn so empfinde ich diesen Blog, eine Art innere Trüffelsuche. Mjam!

  4. Ja, diese Mutter! Echt ein Prachtstück. Kein Wunder, bei der Tochter, oder?

    Ich habe auch einen Satz zu den Wehen: bei meinem ersten Kind, als ich mit den Wehen im Taxi zum Krankenhaus gefahren bin, hat mir der Taxifahrer gute Besserung gewünscht, als ich ausgestiegen bin ;-)

    • Réka Kincses sagt:

      Auch sehr lustig. Eine Freundin von mir verstand während er Geburt statt “Und jetzt Hecheln”, “Und jetzt Lächeln!”.

  5. Sofasophia sagt:

    wahnsinn! ich bin sprachlos.
    und dir ist es gelungen, diese geschichte, so zu erzählen, dass wir lesenden wirklich mitten dabei sind.
    autsch, kann ich da nur sagen.

  6. Sherry sagt:

    Woher hatte sie die Ruhe? Entstand sie aus einer Art Trotz heraus, einer Art Stolz, sich ihre Würde durch dieses Naturspektakel nicht nehmen lassen zu wollen? Ich verstand das bei meiner Mama auch nie. Als ihre Wehen kamen, war sie nur etwas blass und meinte ganz ruhig zu Papa: “So, ich glaube, wir müssen jetzt langsam ins Krankenhaus. Die Sachen sind schon gepackt”, und zeigte mit ihrem Finger in eine Ecke und sie wollten ihren Koffer auch noch selber tragen, aber wir schlugen uns um den Koffer – also Papa und ich. Er stolperte, ich über ihn, wir wären wie in einem Charlie Chaplin Film fast übereinander gefallen, aber das blieb uns dann doch erspart. Und Mama? Sie stand da an der Treppe, rollte die Augen und hatte Geduld mit uns. Wahnsinn … Ich werde auch so schreien wie du und alles verfluchen und mir wünschen, dass Männer in Zukunft sich den Arsch aufreißen müssen, damit ein Kind da rauskommt. Und überhaupt, ich würde Feministin gegen Gott werden!

    Deine Geschichte ist so herrlich … Und deine Mutter ein Rätsel. :)

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