Ich würde mich ungern mit ihr Anlegen

Es ging das Gerücht um, dass sie eine große Nase hat, die kleine Schwester. Wie die armenische Großmutter, munkelte man und das hieß nichts Gutes. Dass seine Tochter wie seine Schwiegermutter werden könnte, davor hatte vor allem mein Vater Angst.

„Die Armenier“ – das war bei uns zu Hause ein Schimpfwort. Es bedeutete so viel wie „geizig“, „geldgierig“ „große Nase“, „breiter Arsch“ „kurze und behaarte Beine“. Oma Ádi war die Verkörperung von all dem. Sie herrschte über unseren Hof voller Hühnerkacke bis zu ihrem Tod. Mein Vater rebellierte zwar, und weigerte sich, ihr zu huldigen, was aber angesichts des Machtverhältnisses eher ein bisschen lächerlich wirkte. Ihre Nähe machte meinen Vater zum ewig pubertierenden Jungen.

Meine Schwester wurde in einer weißen Decke nach Hause gebracht. Sie war dünn und klein. Und sie hatte, das musste man zugeben, eine Respekt einflößende Nase. „Es macht nichts, wenn sie ein bisschen zunimmt, dann sieht man die Nase nicht mehr so doll“ – sagte meine Tante beruhigend. Aber meine Schwester war fest entschlossen, nicht zu zunehmen, und daran hielt sie sich die nächsten 25 Jahre. Sie wollte der Familie sowieso keinen einzigen Gefallen tun. Zuerst spuckte sie regelmäßig die Muttermilch aus. Dann die Brust. Dann schrie sie jede Nacht durch.

Meine Mutter, gerade in der Anfangsphase einer postnatalen Depression, fing bald an, nicht mehr zu Hause zu schlafen. Sie ging Abends im Nachthemd zu Oma Ádi rüber. „Passt auf, dass sie nicht erstickt“ – sagte sie in der Tür mit gequälter Stimme, die Lockenwickler meist schon auf dem Kopf, wie kleine grüne Antennen, und ging dann. Mein Vater seufzte und starrte auf die Milchflasche. Ich wickelte mich in die Decken ein und lernte langsam, bei Geschrei zu schlafen.

Tagsüber spielten meine Mutter und meine Schwester ihr vertrautes Spielchen: Brust rein – ausgespuckt, wieder rein – wieder ausgespuckt. Heulen. Mehrmals hintereinander „ich kann nicht mehr!“, erst leise seufzend, dann quengelig, weinerlich, schließlich schreiend: „Elöd, Elöd, sie trinkt wieder nicht“. Mein Vater telefoniert leise mit dem Psychiater. Ich lese wie hypnotisiert „Schuld und Sühne“ und höre nichts. Ich lasse den Ofen explodieren, verirre mich im Wald, werde fast von einem Auto überfahren. Immer mit einem Buch in der Hand. Ich bekomme den Namen „Luna“ (vom Schlafwandeln), weil ich bei großen Familienessen keine Frage beantworte. Ich höre einfach nichts. Ich bin weg. Mittlerweile schaffe ich das auch ohne Buch.

Meine Schwester liegt nackt auf dem Untersuchungstisch. Meine Mutter schaut den Arzt verzweifelt an. Er ist ein alter, sehr entspannter Mann, er hat auch schon meine Mutter als Kind behandelt. Er beobachtet meine Schwester.
„Ein hübsches Kind. Die Nase zeigt vom starken Charakter. Ich würde mich ungern mit ihr anlegen.“ – Er lacht.
Meine Mutter schaut dramatisch drein. Sie erzählt, dass es nicht trinkt und die Brust auspuckt und schreit. Der Arzt hört eine Weile zu und nickt, dann klopft er ermutigend auf die Knie meiner Mutter: „Nehmen Sie Ihr Kind und gehen Sie ruhig nach Hause. Die Kleine hat nichts, sie ist kerngesund. Alles in Ordnung“.
„Aber wenn sie nicht essen will?“ – meine Mutter klingt verzweifelt, als würde man ihr etwas wegnehmen wollen.
„Dann geben Sie ihr nichts.“
„Aber…“
„Geben Sie ihr erst etwas, wenn sie Hunger hat.“
„ …Und wenn sie nie Hunger hat?“
„Es gab noch kein Kind, das neben Essen verhungert wäre.“

Wir gehen nach Hause. Meine Mutter fest entschlossen, meiner Schwester keine Brust zu geben, bis sie danach schreit. Es vergeht ein Tag. Dann noch einer. Das erste Mal ist richtig Ruhe im Haus. Die Kleine liegt entspannt herum, essen will sie nicht. Endlich hat sie ihre Ruhe. Am dritten Tag stopft ihr meine Mutter wieder heulend die Brust in den Mund. Keine Chance, sie wird wieder ausgespuckt.

Meine Schwester ist nicht verhungert. Sie wurde nicht einmal krank. Sie wurde groß und stark. Und sie hat schon im Babyalter geschafft , was andere das ganze Leben nicht geschafft haben: unsere Mutter klein zu kriegen.

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4 Antworten auf Ich würde mich ungern mit ihr Anlegen

  1. Helpful postings, Appreciate it!

  2. Imola sagt:

    Danke für die Geschichte.
    Die kleine Schwester:)

  3. Sherry sagt:

    Deine Mutter hat mir furchtbar Leid getan in dieser Geschichte. Postnatale Depressionen und dann noch ein Kind, das ihre Milch nicht will. Ich erinnere mich, wie meine Mutter einmal weinte, weil sie dachte, ihre Milch sei nicht gut, als meine Schwester wenig Appetit zeigte. Es scheint, als haben Mütter direkt das Gefühl, irgendetwas stimme mit ihrer Mutterliebe nicht, wenn ihre Milch nicht so floss, wie sie sollte. Dabei sind Kinder nur faul. Wissen inzwischen, es gibt da theoretisch eine Möglichkeit, leichter an Nahrung ranzukommen und dieses verkrampfte Gesauge mit wenig Fluss zu umgehen: Das Flächschen, jawohl! Ich hab’ das alles noch vor mir, und ich weiß nicht, ob ich das will. Ich bin doch so schon total überfordert von allem.

  4. Sofasophia sagt:

    puh, das sind ja machtkämpfe …! früh übt sich … ob nun real oder fiktiv, die geschichte berührt.

    ja, und sie ist, ach, einfach sehr gut geschrieben. :-)

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