Abschied

Ich sehe, dass sie aufgebracht ist, unglücklich und schlecht gelaunt, ihre Blümchenbluse vibriert, wieder hat etwas nicht geklappt, wo sie viel Energie reingesteckt hatte. Monate lang betreute sie den behinderten jungen Mann, dem vermutlich nie jemand eine Chance gab, sie nahm ihn bei sich auf, gegen ein wenig Aufwandsentschädigung, kümmerte sich hingebungsvoll um ihn , Tag – und Nacht. Sie fand heraus, dass er gar nicht behindert war, sondern hochintelligent und begabt, er entwickelte sich unter ihrer Obhut, blühte auf, wie der Kaktus, nach zwei Jahren in Vergessenheit unter dem Ehebett.

Der junge Mann, mit „geistiger Behinderung und Spastik“, alles Folgen eines Geburtstraumas, machte bei der Heilerin in rasender Geschwindigkeit Fortschritte, zog bei seiner Mutter aus und mietete zum ersten Mal eine Wohnung alleine. Er durfte an ihren Ausbildungen umsonst teilnehmen, bei ihren Heilbehandlungen beisitzen. Er war trotz seiner schweren Zwangsneurose Stunden lang still und aufmerksam, stellte Fragen.

Sie traute ihm zu, dass er einen Beruf erlernen und später Geld verdienen kann, obwohl er sein ganzes Leben in Einrichtungen für Behinderte verbrachte, und nach Erlaubnis fragen musste um Pissen zu gehen. „Nächstes Jahr arbeiten wir zusammen!“ – sagte sie zu ihm und er war glücklich wie noch nie.

Doch dann nervte er sie mit seiner ständigen Fragerei, die sofort einsetzte, wenn ihm etwas nicht gefiel, seine ärztlich bescheinigte Zwangsneurose, zerstreut war er, jede kleine Aufgabe, die man ihm auftrug, dauerte Stunden, er hatte keine Lust, Unkraut zu zupfen und Bänke zu polieren auf ihrem riesigem Gelände, das Heilzentrum, faul war er und egoistisch. Sie, eine ungewöhnliche Heilerin, glaubt nicht an Diagnosen, Behinderungen und an Krankheiten sowieso nicht,  sie ist selber von einer unheilbaren Krankheit gesund geworden. Sie befahl ihm, mit der Neurose einfach aufzuhören. Einfach keine Fragen mehr zu stellen. Stark sein, entscheiden.

Heute noch behindert. Morgen nicht mehr.

Als er sich wehrte, gab es Abreibung. Alte Schemen sollten überwunden werden. Also los, und bitte jetzt.

So ging das über Monate. Ein zermürbender Prozess für alle. Bis der junge Mann fürs Wochenende nach Hause fuhr, zu seiner Oma, und nicht mehr wieder kam. Statt dessen rief sein Anwalt an. Der junge Mann habe Angst.  Er würde nicht mehr kommen. Er müsse zu viel arbeiten und würde zu wenig zu essen kriegen.

Das mit dem Essen stimmte nicht. Auch das arbeiten hätte ihm gut tun können. Trotzdem ist er gegangen. Schon wieder einer. Der Aidskranke, die Depressive, die mit den schlimmen Metastasen, sie alle sind gekommen, als sie keiner mehr wollte, nur sie, die Heilerin, gab sie nicht auf. Sie stürzte sich mit ihrer ganzen Hingabe auf sie, bis sie sauer wurden und gingen. Sie sagte: „Wenn der Punkt kommt, gehen sie alle“  Ich habe nie genau verstanden, welchen Punkt sie meinte.

Sie sagte: der Punkt, an dem das Ego losgelassen werden muss.

Ich fragte: aber was  genau ist das Ego?

Sie wollte es nie zugeben, dass sie auch mal zu viel werden kann. Dass sie, Ego hin- oder her  Grenzen überschreitet, die geachtet werden wollen, dass sie nur geliebt werden will, wie jeder andere Mensch auch, und Leute an sich bindet, um nicht allein zu sein. Dass sie nicht nur eine große Heilerin, sondern auch eine große Diktatorin ist, und ein kleines Mädchen aus dem Wedding, mit einem jähzornigen Gefängniswächter als Vater, ihr Kampf gegen das Ego der Menschen nur getarnte Machtgebärde. Oder auch nicht.

Vielleicht liegt die ganze Welt nur in den Augen des Betrachters, in meinen Augen, und ich rede über mich selbst.

„Du kannst jetzt wieder zweifeln“ – brüllt sie mich an und bebt, das kommt unerwartet und doch nicht, ich mache mich auf alles gefasst. – „Bei dem Künstler hast du auch gezweifelt!“

„Ja, habe ich!“- antworte ich und halte mein Baby fest.

„Und bei allen Anderen!“

„Ja, hab ich.“

Ihr Blick ist trüb und wild, ich sehe eine riesige Welle vor mir aufbauen und ich weiß, dass sie über mir zusammenbrechen wird.

„Du weißt überhaupt gar nicht was es heißt, für jemanden Tag und Nacht da zu sein…Was wir mit dem Künstler durchgemacht haben! Nächtelang! Und mit den Anderen…Das weißt du überhaupt gar nicht! Du warst noch nie so für jemanden da!“

„Nein, war ich auch nicht. Ich bin auch nicht du, keine große Heilerin mit einer vollen Praxis.“

„Aber du zweifelst an mir! Du zweifelst!“

„Ja, ich zweifele.“

„Weil Du nämlich an dir selber zweifelst!“

„Ja, ich zweifele auch an mir.“

Sie sucht nach Worten.

„Aber ich fange an, mich zu lieben! Ich stehe zu mir.“

„Was willst du von mir? Warum greifst du mich jetzt an?“

„Ich greif dich an! Wie oft hast du mich angegriffen? Jetzt greife ich dich mal an!“

Seit fünfzehn Jahren kenne ich sie, meine älteste Freundin in Deutschland, meine Lehrerin und Heilerin, meine Wasweissich, meine liebste Nervensäge, wir haben viel zusammen durchgemacht, sie in rotem Kostümchen, ich in Hippieoutfit, sie die Älteste ich die Jüngste, Hexenausbildung, sie in Fertigheim im Berliner Vorstadt, ich in besetztes Haus in Prenzlauer Berg, sie Weddinger Proll, Mutti mit großen Busen, ich rumänische Waschmaschine, ausgemergelte Tochter in ständiger Sinnkrise. Sie hat mich gefüttert. Ich ihr beim Lernen geholfen. Wir haben immer aneinander festgehalten, unsere wichtigste Prüfung zusammen bestanden.

„Ich habe dich bestimmt oft angegriffen. Und auch Du hast einen Schatten, nicht nur die Anderen!“- sage ich.

Sie springt auf. Ich auch. Langsam kommen mir die Tränen. Die anderen, ihre Leute, greifen auch ein.

„Ach Réka!…“

„Ja, greift mich an!“ – schreie ich in die Runde- „Greift mich doch an! Ich weiß es, wie es hier läuft!“

Stöhnen. Jammern. Die Kleine Zierliche ist blass vor Wut:

„Klar, wir sind hier nur Marionetten und haben keine eigene Meinung, klar!

„Mir wird hier zu wenig widersprochen!“

„Wir sind eben kein Debattierclub, wir diskutieren nicht! Hier geht es um Gefühle!“

Die Heilerin und ich, wir stehen Gesicht an Gesicht, ich spüre ihren heißen Atem:

„Was willst du von mir?“ –fragt sie

„Was willst du von mir?“ – frage ich zurück.

„Warum bist du gekommen?“ – fährt sie fort, als hätte sie nicht permanent angerufen und nach mir gefragt, und jemanden vorbeigeschickt, damit ich komme, ich sollte in die Gemeinschaft einsteigen, in die Alchemistengruppe, in die Clique der Selbsterkenner, jedenfalls ist es hier nie langweilig oder öde, hier geht immer die Post ab, ich war immer gerne dabei. Und trotzdem. Einsteigen will ich nicht.

„Du willst einfach nur haben, ohne zu geben“ – sagt sie. „Darum geht es. Dich hingeben, willst du nicht.“

Ich zögere.

„Und was ist mein Schatten? Was?“

Ich atme tief durch:

„Du hältst mich fest. Du lässt mich nicht los! Du machst Leute abhängig!“

Die Runde bebt. Sie auch. Adieu permanenter telefonischer Seelennotdienst, denke ich, adieu persönlicher Lebensratgeber auf zwei Beinen. Wer die Hand beißt, die ihn füttert muss selber jagen gehen.

„Ich halte dich fest? Quatsch!“ – sagt sie- “Du bist vollkommen frei! Geh doch!“

„Ich gehe auch…“

„Und was noch…?“

„Du übst Druck aus!“

„Ich übe keinen Druck aus, das ist dein Druck den du spürst, dein eigener Druck!“

Ich spüre ihre Verzweiflung und meine auch, das hier ist kein Streit, sondern ein Abschied, die Fahrt durch den Wald zum Haus geht zu Ende, die breite Straße mit den alten Pflastersteinen wird allmählich leer, der Italiener, wo wir die großen Pläne für unsere Zukunft geschmiedet haben, bleibt ab jetzt geschlossen.

„Du aber übst auch Druck aus, ich spüre nicht nur meinen eigenen. Ich bin auch dein Spiegel, nicht nur du meiner! Schau ihn doch auch mal an!“

Lachen. Alle lachen. Verzweifelt. Nervös. Jetzt brüllt ihr Mann auch.

„Du kommst zum Meister und sagst: „Schau dir deinen Schatten an?! Da stimmt doch was nicht!“

„Psst, nicht so laut!“ –ermahnt sie ihn- „Wegen dem Baby“

„Du sagst mir, wenn ich hier nicht mitmache, werde ich krank, oder unglücklich, das ist wie ein Fluch!“ – fahre ich fort, und die Welle stürzt unentwegt über mich ein.

„Das habe ich nie gesagt! Als dein Kind… überleg mal, dass dein Kind überlebt hat…“ – fährt sie fort- „Da habe ich auch Druck gemacht, und warum, warum…?“

„Ja, und ich habe sofort auf dich gehört, weil ich wusste, dass es stimmte…“

„Du musst nicht auf mich hören!“

„Ich habs aber getan und das hat mir geholfen und dafür bin ich dir sehr dankbar!“

„Du warst immer frei! Oder hast du je das Leben gelebt, das ich gerne gehabt hatte, dass du es lebst?“

„Nein…“

„Wenn es um den Punkt geht, will jeder wegrennen.“

Jetzt spüre ich ihren Schmerz, ihr gigantischer Versuch der Dunkelheit zu trotzen.„Es gibt nicht nur einen Punkt.“ – sage ich, und mir fließen unaufhörlich die Tränen. „Doch es gibt nur einen. Du bist frei. Du kannst gehen, wann du willst.“

Ich drehe mich um, laufe in den Flur und lege meinen Kind in die Babyschale. Es ist passiert, denke ich, auch dieser Moment ist gekommen. Sechzehn Jahre lang waren wir unzertrennbar. Ich bleibe an der Schwelle stehen:

„Danke.“ – sage ich.

Sie hat sich inzwischen hingesetzt und steht wieder auf. Ich nehme vage die Blicke wahr, manche sind wütend, manche betroffen oder voller Mitgefühl. Ich drehe mich um und höre ihre Stimme hinter mir.

„Warte. Ich nehme dich in den Arm“

Sie kommt auf mich zu, wir fallen uns in die Arme. Ihre Stimme wird weich.

„Bleib doch. Das, was du jetzt fühlst, habe ich ein Leben lang empfunden. Jetzt bist du weich…das Zarte in dir, das hast du mal vergraben…irgendwann, ganz früh. Alle sehen in dir die böse Réka, aber ich habe die nie gesehen, ich habe immer was anderes in dir gesehen. Bleib hier….keiner wird dich je so konfrontieren, wie ich. Du kannst dich entscheiden. Du kannst weiter mit deiner Maske rumlaufen…“

Ich schaue ihr in die Augen, sie sind mir unendlich vertraut, ich kenne jede Falte  auf ihren Händen. Vielleicht stimmt es, was sie sagt. Trotzdem muss ich gehen.

„Ich bin dir dankbar“ – sage ich.

Sie lächelt.

„Ach Réka.“

„Wieso sagst du „ach Réka“, wenn ich sage, ich bin dir dankbar?“. Das ist meine letze Frage. Sie schweigt. Irgendwo um uns herum stehen Leute. Das weinende Baby wird langsam still.

„Lass mich bitte gehen.“ Sie weicht zurück.

„Klar.“

Ich gehe durch die Tür. Draußen scheint die Sonne. Die herrliche, goldene, flüssige Spätsommersonne. Nichts als unendliche Schönheit, egal, wo ich hingucke. Und Glück. Und Frieden.

 

 

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13 Antworten auf Abschied

  1. Sherry sagt:

    Dieser Augenblick der Trennung kommt mir bekannt vor, und dennoch ist er mir fremd, weil wir es damals beide nicht wollten – und dennoch gab es nie wieder ein Zurück. Kein richtiges.

    Réka, woher wusstest du, dass du dich jetzt von ihr trennen musst?

  2. Erzs sagt:

    Es gibt kein Intellektueller ohne Zweifeln. Es gibt kein Künstler ohne Zweifeln.
    Ich bewundere deine Stärke. (Und ich bewundere die Stärke der Heilerin :-)
    Und wie so oft, geht es um den Aushalten vom Schmerz, des Konflikts. Ich hätte mir gewünscht, ich hätte es geschafft. Aber ich bin nur weggelaufen, als ich es gespürt habe, wie alle anderen. Der Spastiker. Der AIDS-Kranke Künstler.
    Nein, geschont habe ich mich nicht, ich nahm den Kampf auf. Kannst du mich an den Stein erinnern um den wir gekämpft haben mit der Heilerin. Und wie sie sich auf mich gesetzt hat, und mich mit ihrer Körperfülle lahm gelegt hat. Ich kann mich noch an der klebrigen Dunkelheit des Raumes erinnern, wo ich mich versucht habe, wieder zusammen zu puzzeln. Ich fiel in den Schlaf. Als ich wach wurde, hatte ich einen staubtrockenen Mund wie nach einem “bad Trip”. Ich dachte erst, ich schüttele mich und gehe in den Kampf zurück. Ich werde es ihr sagen. Was ich von ihr halte. Aber ich brach daran zusammen und nahm mich dann lieber in den Schutz. Ich muss noch wachsen. Du bist stark, liebe Freundin. Und deine Gegnerin auch. Aber du konntest es aushalten. Alle Achtung!

  3. Kathrin sagt:

    Was mich wundert, ist der Satz mit der bösen Réka. Die hab ich noch nie gesehen. du bist voller liebe und du denkst (nein, nicht zu viel, ich bezweifle, dass man zuviel denken kann). Das kann nicht böse sein. Tja, und auch an diesem Umstand hatte sie sicher Anteil…

    • Kathrin sagt:

      so richtig los lässt dein blog mich nicht diesmal. vielleicht weil er ausdruck davon ist, was auch ich schon immer am Guru-shishya-system bezweifelt habe. ist es nicht eher so, dass in einer solchen beziehung das geben fast schon verboten ist? du sollst nehmen, was dir hingesetzt wird, aber nicht im gleichen maße zurückgeben dürfen. bzw. wird eine bestimmte gabe von dir erwartet… irgendwas stimmt da jedenfalls nicht.

      • hausdrachen sagt:

        Ja. Ich habs noch nicht raus. Auf den anderen Seite glaube ich, dass es durchaus Wissen gibt, das man nicht intellektuell übertragen kann. Ich habe eigentlich nichts gegen unkonventionelle Methoden, jenseits vom zivilisierten Gespräch, das stark seine Grenzen hat und auf die Dauer auch sehr langweilig ist. Ich gehe, wenn ich mich zu doll unfrei fühle. Aber auch das, hat seine andere Seite: schon immer und überall habe ich mich unfrei gefühlt-:) Es gibt also keine Lösung, aber die ist heiter -:)

  4. Katika sagt:

    Ich weiss nicht, wer genau diese Frau ist, aber ihre Sätze sind voller Manipulation und Aggression. Sei froh, dass du sie los hast. Klar, bestimmt war es hilfreich, als sie in schlechten Zeiten für dich da war und dir zugehört hat. Aber du spürst, wass für dich auf langer Sicht gut ist – anscheinend ist sie es eben nicht.

  5. ich mag diese widersprüchlichkeit in dir und deinen geschichten. die zweifel und das wissen, was für dich jetzt “richtig” ist. vielleicht liegt in diesem widerspruch die einzige freiheit, die man hat.

  6. Sofasophia sagt:

    verrückte geschichte.
    da ist so viel schmerz und so viel weisheit. und so viel selbsterkenntnis. und vor allem liebe.
    danke fürs teilen.
    herzlich, soso

  7. Beatrice sagt:

    Verrückt, das ist die Geschichte, die ich bei Deinem Geburtstag zwischen der Heilerin und Dir gespürt habe. Erinnerst Du Dich an Ihre kritische Anmerkung und dabei ging es darum doch gar nicht, oder doch.
    Auf ganz bald

  8. Hajni sagt:

    Herzlich Willkommen …otthon.

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