Auf dem linken Auge blind

„Kannst du kurz rauskommen?“ – fragt er, und ich halte das Handy zwischen Kopf und Schulter geklemmt, in der rechten Hand der Kochlöffel, auf dem linken Arm das Baby. Mein großer Sohn redet unaufhörlich auf mich ein. Er sitzt im zitronengelbem Pyjama auf dem Tresen zwischen Töpfen und Tassen und ist nach einem Tag am See prächtig gelaunt und überhaupt nicht müde.

„Gerade schlecht“ – antworte ich, und brauche meine gesamte Selbstbeherrschung um das Multitasking nicht in einen hysterischen Anfall übergleiten zu lassen, der mir dann trotz gut gemeisterten Tagesablaufs doch wieder den Ruf der bösen Ehefrau einhandelt. Während ich weiter die Nudelsoße rühre, das Baby schuckele und dem Wortschwall des Sohnes standhalte, spüre ich anderen Ende der Leitung Enttäuschung aufkommen.

„Warum schlecht?“

„Ich koche gerade.“ – Das Argument scheint gar nicht überzeugend zu sein, er versucht es weiter, mein seit über zehn Jahren Lebenspartner und seit sechs Jahren Ehemann, wir sind beide knapp schon vierzig und zehn Kilo dicker als am Anfang, ab jetzt würde es normalerweise nur noch bergab gehen, aber er hat sich ein Motorrad gekauft, jetzt wo wir auf dem Land wohnen und ich zum Geburtstag ein Rezeptbuch zum Kuchenbacken bekommen habe. „Ich will mit dir eine Runde drehen … es ist so ein schöner Sonnenuntergang“ – „Der Sohn muss ins Bett.“ – sage ich, wie eine pflichtbewusste Mutter, und schaue in den Sonnenuntergang hinaus. „Hm … vielleicht fünf Minuten … du hast noch nie drauf gesessen, ich will es dir unbedingt zeigen …“ Etwas in mir lockert sich, warum nicht, denke ich, es klappt sowieso nicht, dieses Projekt, sich gut bürgerlich zu verhalten, unser Leben besteht aus lauter Ausnahmen und Wochenenden und Tagen an denen alles schief läuft oder zumindest anders.

„Sohn“ – sage ich – „Du wählst Dir ein Buch aus, das ich Dir später vorlesen soll, und ich gehe raus mit Papa eine Runde drehen.“ Der Sohn ist begeistert, er will aus dem Fenster zugucken. Ich mache den Herd aus, lege das Baby in die Wiege und renne auf die Straße, vor dem großen weissen Haus, das unser Sohn „das Schloss“ nennt, da steht er, im kobaltblauem Hemd, neben der roten Vespa, gut gelaunt, es ist ein heißer Abend, das erste mal seit Sommeranfang hier in Brandenburg, ich denke an unseren Sizilienurlaub und bekomme Fernweh wie immer, hinten auf der kleinen Straße steigt gerade die Opernsängerin mit ihren Freunden aus dem purpurnen Auto, sie waren am gleichen Badesee wie wir, ich habe sie kurz gesehen. Ich steige auf das Motorrad, ohne Helm, ich will den Wind spüren, die Felder riechen, klemme mich an den kobaltblauen Oberkörper und wir sausen los, lassen die Kinder hinter uns, das tut gut, wir rasen an der Gruppe braun gebrannter Nachbarn vorbei, die uns lachend zuwinken.

Die Sonne ist knallrot, wir rasen an reifen Ackern entlang, die Allee wirft herrlichen Schatten, Rehe flitzen durch das goldgelbe Meer, nirgendwo ist ein Haus oder ein Mensch zu sehen, es duftet nach sattem Sommer, das orangene Sonnenlicht durchflutet meinen ganzen Körper. Ganz oben auf dem kleinen Hügel halten wir, es summt und zwitschert und atmet. Sizilien ist überall, denke ich, und bin für einen Moment, all meinen Bemühungen zum Trotz, in Gottes Gnade gefallen.

„Geht es Dir nicht aufn Sack, in einem Künstlerdorf zu wohnen?“ – fragte mal ein Freund, arbeitslose Möchtegernkünstler sind das, die den ganzen Tag am See rumhängen, wie früher zu Hause, während der Diktatur. Leute, die nix aus ihrem Talent machen, warum sollten sie auch, es gibt nichts zu gewinnen, hinter Losertum steckt immer Hochmut, ein Luxus, den sich nur der Mensch leisten kann, das flitzende Reh geht seiner Bestimmung nach, während Simon der Magier vom Himmel stürzt, weil er seinem eigenen Willen folgt, und ich hatte immer Sympathie für ihn, für seinen hoffnungslosen Kraftakt. Ich muss mich schon früh  auf die falsche Seite gestellt haben, um den lieben Gott mächtig zu provozieren, er sollte seine Rebellen mehr lieben, als all die Braven, Demütigen und Übenden, und ich hätte es nicht gedacht, dass er doch ein Spießer ist, ein kleinkarierter Pfennigfuchser, der endlos Demut einfordert, Selbstlosigkeit und Ähnliches, das mich langweilt und abstößt, und dafür gibt es eins aufs Dach.

Als wir nach Hause kommen, sitzt der Sohn im Fenster und schaut glücklich auf seine glücklichen Eltern, das Töchterchen schläft selig im Körbchen. Kinder mögen es, wenn ihre Eltern zufrieden sind und helfen auch gerne dabei. Es geht alles schnell und problemlos, Zähne putzen, ins Bett, schlafen.

Dann juckt mein linkes Auge. Ein Insekt muss während der Fahrt hineingeflogen sein. Irgendwas kleines, schwarzes, das Yang im Yin, das Dunkle im Hellen und umgekehrt. Mein Mann schaut nach. Nix ist zu sehen. Aber es schmerzt. Er guckt nochmal. Danach schmerzt es noch mehr. Lass doch mal los, ich will nur gucken – sagt er, aber ich mag es nicht, wie er mein Augenlied nach oben klappt, und wie er mit mir redet. Er mag es nicht, wenn ich mich wehre. Es wird bald wieder gebrüllt, und die flüssige Sonne schwindet um der Nacht Platz zu geben.

Am nächsten Morgen ist mein Auge komplett zugeschwollen, als hätte mir jemand eins in die Fresse gegeben. Es tränt unaufhörlich. Jedes kurze Glück hat seinen Preis, denke ich und weine gegen meinen Willen. Wer nach zehn Minuten Eheglück fast erblindet, muss über sein Leben nachdenken.

Links ist weiblich. Auge, ist sehen. Links sehe ich kaum. Blind. Das blinde Weib. Ins Eheglück reinschlagen. Ja, liebe Mama. Ich machs ein bisschen anders, aber ich liebe dich. Es war immer schon so. Liebe Grüße an Gott. Bald wird alles anders. Oder auch nicht. Ich sehe jetzt jedenfalls verschwommen. Aber irgendwann, hoffentlich von Angesicht zu Angesicht. Du alter Pfennigfuchser.

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10 Antworten auf Auf dem linken Auge blind

  1. Katika sagt:

    Wirklich wunderbare Geschichte… :)
    Und irgendwo, ich weiss nicht wo, aber es stimmt absolut.
    Wir müssen für unsere schönen und leichtsinnigen Momenten teuer bezahlen, ob später oder unmittelbar danach. Die Chinesen sagen: wenn du ein Geschenk bekommst, hast du dafür bereits dreifach bezahlt.
    Und manchmal, wenn wir ackern wie blöde, tagaus, tagein ohne Pause für die falschen Ziele, werden dafür dann auch prächtig belohnt – damit wir später all die schönen Früchten, die uns vorher zufrieden, berühmt oder beliebt gemacht haben, dann doch mit einer verzweifelten Geste von uns schmeissen können.
    Wir beide sind irgendwo ganz ähnlich innendrin und doch so verschieden, schon immer gewesen. Ich fuhr immer anders als du: ich habe schon als kleines Mädchen immer das getan, was von mir erwartet wurde – dafür wurde ich auch belohnt, bis es mir schlecht wurde. Von dir habe ich die Freiheit gelernt, und dass man sehr wohl darauf scheissen kann, was andere denken. Leider viel zu spät.
    Du bist jetzt in einem Hafen angekommen. Du hast all deiner Ziele erreicht, Beruf und Familie in der Tasche, nur die Tage sind zu kurz um alles richtig zu machen. Ich weiss noch, es ist eine ausserordentlich schwierige Zeit, mit zwei so kleinen Kindern das Leben zu meistern, ohne dass man hoffnungslos erschöpft oder zwanghaft wird. Man will einfach nur ein bisschen Ruhe oder ungestörten Tagesablauf, wenigsten ab und zu – aber es klappt irgendwie nie.
    Réka, wir sind soeben beide 40 geworden – stossen wir darauf an! Und dass wir immer für die richtigen Ziele ackern!

  2. Sofasophia sagt:

    Was für ein wunderbarer Text. Nur das mit dem Auge, na ja, das hätt nicht müssen sein. Ich hoffe, das wird bald wieder gut. Oder ist schon? Ich war nämlich nun schon lange nicht mehr hier (Technikausfall).
    Ja, das Glück von Eltern in Bezug auf Kinder ist sooo wichtig! Wichtiger als alle Bürgerlichkeit.

    Liebe Grüße, Soso

  3. Sherry sagt:

    Du meine Güte. Ich nenne so etwas immer “Der Taubenscheiße-Algorhitmus.” Aber das wäre jetzt zu anstrengend, um das zu erklären. Jedenfalls fielst du ihm zum Opfer, aber du solltest ihm den Stinkefinger zeigen und schon bald wieder glücklich sein.

  4. balázs zsóka sagt:

    no gains without pains! in the country of the blind the one-eyed man is king! but you are the queen!! :-) ,lol

  5. solange du noch genug siehst, um diese geschichten zu schreiben, ist doch alles in ordnung. für mich ;-)

  6. Boris Kálnoky sagt:

    Pfennigfuchser? Ich schätze kalkulierende Menschen vornehmlich dann, wenn sie auch rechnen können, was im Vergleich zur ewigen Buchführung meist nicht der Fall ist, weil Gott im Kopfrechnen ziemlich top bleibt.

    Was ist schon ein dickes Auge – Du hast so viel bekommen, und Dir wurde so viel nachgesehen. Grosszügig, nicht Pfennigfuchser. :)

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