Presswurst auf Ungarisch

Ich stehe am Hang, meine Hose steckt in Oberschenkelhöhe fest, ich ziehe verzweifelt an der Rändern, zuppele, mein Hintern quillt überall drüber und leistet Widerstand während im Hintergrund ein Traktor sich gefährlich nähert. Auf der Ladefläche wackeln fünf siebenbürgische Bauern mit Strohhüten, in dreckigen Hemden und einem amtlichen Alkoholpegel so nach Feierabend.

„Kann mir bitte jemand helfen?“ – frage ich panisch meinen grinsenden Vater und meinen ebenfalls grinsenden Ehemann, die mir bei der Aktion sichtlich amüsiert zuschauen. „Das kannst du vergessen“ – antwortet mein Vater und winkt ab während mein Mann zögernd näherkommt und mich versucht mit ein paar unüberzeugten Gesten in die viel zu enge Hose hinein zu schütteln. Vergeblich. Mit einem lauten Knall geht der Reißverschluss kaputt, dann platzen die Nähte.

„Wie heißt Presswurst auf ungarisch?“ – fragte mein Mann paar Stunden zuvor. „Das gibt es nicht auf ungarisch “ – antwortete ich genervt, und ließ den Eimer tief in den Brunnen hineinsinken, bis er mit einem metallischen Glucksen endlich auf Wasser traf.

Es ist Ende September, brühend heiß in meiner alten Heimat, trocken und karg, wie in der mongolischen Steppe, die schlimmste Dürre seit 1946. In den letzten zwei Jahren hat es kaum geregnet, die Erde trägt tiefe Furchen, das Gras zerfällt zu Staub unter unseren Füßen. Keine Wolke, keine Brise, nur diese stehende, drückende, unendliche  Hitze, die ich über alles liebe, die keinen Baum hoch wachsen und jeden See austrocknen lässt.

Ich schließe die Augen, atme tief durch und lasse das eiskalte Wasser über meinen heißen Kopf fließen. Die Blicke, das Drücken des Badeanzuges, die Presswurst, alles verschwindet, ich spüre die unbewegte Luft, es riecht nach Kuhmist, verbrannter Erde und gerösteten Auberginen. Für einem Moment hören alle Gedanken auf, an dieser Schwelle zwischen Heiß und Kalt regiert das Nichts, die Landschaft dringt durch die Poren in mich hinein, die kahlen Hügel, das unendliche Unbewohnte, mit dem kleinen Dorf in der Mitte, das Land von dem ich wie verrückt geflüchtet bin, um dann ständig Heimweh zu haben, die schiefen Häuser mit Holzveranda und Heuhaufen, der Dreck, der hier keiner ist, sondern zum Leben gehört, die alten besoffenen Männer und die dicken, herzlichen und unterdrückten Frauen mit Kopftuch und hängendem Bauch. „Sie sind so schön geworden“ – meinten sie, als ich zugenommen hatte, wahre Begeisterung in den Augen, endlich bin ich eine von ihnen, mit zehn Kilo mehr auf die Rippen, ungeeignet für Großstadtschick, eine ganz normale Frau mit leichtem Übergewicht und Hängebusen. Urlaub vom gesunden Ernähren, von Diätwahn und Yogakult, von Gruppentherapie und immer reflektierten Gefühlen, von alles richtig machen. Ich tauche in das ungeschminkte Leben ein von dem Dummen und Unreflektierten, von dem Ungesunden und Unmoralischen, ich atme durch und auf in der Welt voller Makel und Schwächen, in dem Leben wo das Schicksal regiert und keiner für sein eigenes Unglück zuständig ist. Diese herrliche, ewige Kindheit im Schoße eines ungerechten und unberechenbaren Gottes, den es vielleicht gar nicht gibt. In einem Leben voller Sinn ist das Sinnlose das einzig freie, die Ausnahme, der Luxus. Vergeudete Zeit, verschwendete Lebensenergie, Hauptsache der Selbstgebrannte schmeckt. Kein Sonnenschutz, keine zwei Liter Wasser am Tag, kein Bio LPG, kein Tierschutz.

Als ich den Eimer absetze und mich umgucke sehe ich eine wunderschöne Zigunerin hinter dem Busch, in langem Rock und Kopftuch, bunt wie ein Kanarienvogel, sie schaut mir in die Augen, unendliches Staunen im Gesicht, eine Frau halbnackt, die sich eimerweise kaltes Wasser über den Kopf kippt.

Mein Mann lässt los und ich stehe da, mit heruntergelassener Hose am Dorfrand, ich habe eben die falsche Hose eingepackt, hoffnungslos zu klein, wie aus einem früheren Leben, und bevor der Traktor uns erreicht lasse ich mein kurzes Kleid fallen, über meinen nackten Bauch und stehe unbewegt da, wie eine komische Statue in rot, hinten und vorne eigenartige Erhebungen, Ecken und Kanten, die man bei genauem Hingucken als offenen Reißverschluss, Knöpfe und zusammengepresste Fettwülste identifizieren könnte. Der Traktor fährt an mir vorbei, die Männer nicken und schauen mich verwundert an. Ich grinse verkrampft. Sie drehen sich immer-wieder um, ich bewege mich nicht. Ich will sie nicht schockieren, die netten, engstirnigen Dorfleute mit ihrer mittelalterlichen Prüderie. Ich laufe niemals im Minirock über die Dorfstraße. Dafür als Presswurst mit kaputtem Reißverschluss. Ich spüre die Blicke in meinem Rücken. In Kreuzberg würde das niemandem auffallen. Wie herrlich, die Vorstellung.

 

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12 Antworten auf Presswurst auf Ungarisch

  1. Mika sagt:

    Auch ohne Übergewicht – man steckt da gleich mal drin – nein, nicht in deiner Hose – in deiner Geschichte, und zwar mitten drin, so anschaulich erzählst du! :-)
    Aber ohne Distanz, ohne Weggehen könnte man das Dorfleben, oder Heimat überhaupt, nicht schätzen. Hätte man dableiben müssen, würde man es hassen. Zumindest mir würde es so gehen.
    So kennt man beides und kann beides lieben. Wahlweise.

  2. Réka Kincses sagt:

    Jawohl! Auf die Fette Sau! -:)

    • Sherry sagt:

      Ja, Réka. Aber wenn ich mir – gefangen in meiner Impulsivität – die Selbstfindungs-yoga-meditations-selbstverwirklichungs-peace-friede-freude-eierkuchen anhören muss und so, dann muss ich manchmal zeitweise bisschen kotzen und brüllen: SCHAU DICH DOCH MAL UM! … Da ist mir Presswurst und harte, rauhe Frauenhände mit Leibesfülle für eine Woche sowas von lieb. Ich will dann auch mal im Dreck wälzen. Und mich mit einem rauhen Bauernjungen prügeln. Weißt du? Ach, wahrscheinlich weißt du eh.

      Ich glaube, das, was in deinem Text so toll war, ist eben dieser Kontrast zum Städte-Schickimicki und einem Ort, an dem Menschen noch mit ihren Händen ihr Essen besorgen müssen.

  3. Sherry sagt:

    “In einem Leben voller Sinn ist das Sinnlose das einzig freie, die Ausnahme, der Luxus.”

    ***

    Danke für diesen Satz und überhaupt.

    • Réka Kincses sagt:

      Ich glaube es gibt ein natürliches streben nach Vollkommenheit. Das Richtige und das Gute ist immer nur die eine Seite. In diesem Sinne und auf die Presswurst !-:)

      • Sherry sagt:

        Ehm, meine Antwort gehörte eigentlich hierhin:

        Ja, Réka. Aber wenn ich mir – gefangen in meiner Impulsivität – die Selbstfindungs-yoga-meditations-selbstverwirklichungs-peace-friede-freude-eierkuchen anhören muss und so, dann muss ich manchmal zeitweise bisschen kotzen und brüllen: SCHAU DICH DOCH MAL UM! … Da ist mir Presswurst und harte, rauhe Frauenhände mit Leibesfülle für eine Woche sowas von lieb. Ich will dann auch mal im Dreck wälzen. Und mich mit einem rauhen Bauernjungen prügeln. Weißt du? Ach, wahrscheinlich weißt du eh.

        Ich glaube, das, was in deinem Text so toll war, ist eben dieser Kontrast zum Städte-Schickimicki und einem Ort, an dem Menschen noch mit ihren Händen ihr Essen besorgen müssen.

  4. Sofasophia sagt:

    vielleicht ist heimweh immer auch die sehnsucht nach der unschuld der kindheit, wo noch jeder duft wirklich der duft war, der er war?

    ich geniesse auch diesen text von dir ausserordentlich. das bild mit der hose als metapher für die veränderungen ist stark!

    danke fürs teilen!

    lg, soso

  5. Katika sagt:

    Das Glück des Einwanderers

    Es ist der schönste Text über Heimweh – genau gesagt über das Fehlen von Heimweh -, den ich je gelesen habe. Ein befreiendes Lebensgefühl, endlich wieder Zuhause zu sein, egal unter welchen Umständen, egal wie, egal warum.
    Man lässt sich fallen und geht zurück zu den Anfängen. Es ist nicht besser oder schlechter, es ist eben vertraut.
    Man ist anders geworden als die daheim gebleibenen und das Heimatland ist auch anders als die neue Heimat.
    Eigentlich gibt es nur eine Heimat. Ich lese deine wunderbaren Texte und ich lese auch diesen Text, und mir kommt immer nur die eine Frage: bist du glücklich? Kannst du (kann man) überhaupt glücklich sein ausser seiner Heimat? Hat das Glück des Einwanderers überhaupt etwas mit seiner Heimat zu tun? Sehr viel sogar? Oder gar nichts? Es kommt darauf an?
    Ich glaube nicht daran, dass man irgendwo anders glücklich sein kann als Zuhause, aber es ist auch nur die persönliche Meinung eines kleinen und unwichtigen Menschen, der wieder heimgekehrt ist, statistisch gesehen also irrelevant.
    Was kann man dazu sagen? Probiers aus.

    • Réka Kincses sagt:

      Kann sein. Ich erinnere mich nur zu stark daran, wie wild ich weg wollte, als ich zu Hause war. Ich hatte eine ebenso quälende Fernweh, wie ich jetzt Heimweh habe. Daher bin ich mir selbst immer verdächtig. Ich lerne einfach nur den ewigen Widerspruch auszuhalten.

  6. Beatrice sagt:

    Auf den Luxus der Presswurst, die es in Deiner Sprache nicht gibt!

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