Der Mensch ohne Kopf

Die Ungarn, die spinnen gerade. Oder was. Die haben nicht alle Tassen im Schrank. Nazis. Sind die jetzt wirklich Nazis? Und was ist mit dem Antisemitismus da? Unmöglich! Und dieser, wie heißt er noch mal, Orbán, er hat einfach die Verfassung verändert! Mit seiner Zweidrittelmehrheit. Und die Mediengesetze? In Ungarn gibt es keine Meinungsfreiheit mehr – sagen Freunde, Bekannte, egal mit wem ich spreche.

Das macht mich wütend.

Wer seid, ihr um nach zwei Zeitungsartikeln zu meinen, dass ihr Bescheid wisst? Und selbst wenn Orbán ein Diktator ist, trotzdem habt ihr keine Ahnung!

Doch wenn ich anfange zu argumentieren, werde ich mir selbst verdächtig. Ich merke, dass ich auch keine Ahnung habe. Ich habe auch nur die paar Artikel gelesen. Ich lebe seit fünfzehn Jahren in Berlin. Von hier aus ist es gut reden, heißt es.

Ungarn.

Ich komme gar nicht aus Ungarn. Ich komme aus Rumänien. Na toll. Eins besser als das Andere.

Ich rufe zu Hause an, „schaltet den Skype mal ein“ – bitte ich meinen Vater. Das dauert. Skypen mit meinen Eltern ist, wie Rauchzeichen abgeben, an einem sehr windigen Tag. Das Bild ist unscharf, wie ein impressionistisches Gemälde, mit vielen Farbflecken.

Es gibt niemand in der Gegend, der eine Kamera scharf stellen könnte. Mein Vater ist schließlich deshalb Anwalt geworden, damit er sonst nix können muss, denn ein gut verdienender Anwalt kann alle Dienstleistungen bezahlen. „Er ist aber gar nicht gut verdienend, er ist ein Loser“ – kommentiert meine Mutter sofort, sie kann’s einfach nicht lassen. Sie, die als Professorin für Toxikologie und Autorin von mehr als hundertzwanzig wissenschaftlichen Abhandlungen auch keine Computerkamera scharf stellen kann. Aus anderen Gründen: der Mann soll das machen. Auch wenn die Frau einen Doktortitel hat soll das der Mann machen. Verdammt.

Es gibt hier viel mehr Probleme mit Weltbildern  - denke ich – als Viktor Orbán. Er ist sozusagen nur die Spitze des Eisbergs. Was sagt ihr dazu?“ – frage ich, trotz mächtiger Wackelei, Gedränge und Schubserei vor der Kamera. Meine Eltern fummeln vergeblich, das Bild wird nicht besser.

„Zu was?“– antwortet meine Mutter und ich sehe ihren Kopf leider nicht, nur einen totgewaschenen Pulli, mit schwarz-weißen Tigermustern. Der Bildausschnitt endet am Hals.

„Na, dazu, dass Orbán jetzt ins Grundgesetz geschrieben hat, dass Obdachlose nicht auf der Straße übernachten dürfen.“

„Finde ich sehr gut“– sagt meine Mutter.

Meine Mutter, dass muss man dazusagen, hat einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Meistens. Sie hat Civilcourage. Sie setzt sich sofort ein, wenn ihr was unfair vorkommt. Sie rettete eine Bettlerin von einem prügelnden Polizisten, zu Diktaturzeiten, wo die Leute ihre Augen schlossen und lieber gegen die Wand liefen, als dem Bullen gegenüber „halt“ zu brüllen. Meine Mutter blieb stehen, und schrie so lange, bis der Polizist die Frau los lies und schnell das Weite suchte.

„Finde ich sehr gut“ – sagt sie also, und das passt so gar nicht zu ihr.

„Und wieso findest du das sehr gut? Es verletzt doch die Würde der Menschen, wenn man sie einfach so von der Straße aufsammelt, und abtransportiert wie Müll.“

„Meine Würde verletzt es aber auch, wenn ich sie ständig anschauen muss, wenn ich über Besoffene steigen muss“ – antwortet sie trotzig.

Dass Argumente sind, wie ein Einhorn an beiden Hörnern zu packen, das weiß ich. Die Ungarn sagen auch: mit Pfürzen Ostereier bemalen. Das weitere Gespräch verläuft ergebnislos. Meine Argumente greifen ins Nichts. Auch mein Vater stellt sich stur.

Ein Mensch verhält sich demokratisch, wenn er offen ist für die Argumente anderer. Demokratie fängt im Kopf an, denke ich. Und endet in der Verfassung.

Ich versuche die Argumente meiner Eltern bei den Leuten anzubringen, die die Zeitungsartikel gelesen und über Ungarn bereits eine starke Meinung haben. Auch dort lande ich nur mäßigen Erfolg. Denn Ungarn hat den Ruf ziemlich Rechts zu sein, was auch der Realität entspricht. Und ein Land, das Rechts ist,  hat´s verschissen bei den aufgeklärten Menschen. Meine Mutter sagt zwar: „Orbán hat die Banken aber besteuert und keine Kredite vom IWF aufgenommen und die Energiepreise gesenkt. Er tut was für die Menschen.“ – aber wenn ich das zitiere, dann klingt das so, als würde ich über die Autobahn sprechen im Bezug auf das dritte Reich. Nach Rechtfertigung.

Ungarn ist aber nicht das dritte Reich. Entschuldigung. Ist es nicht. Und Orbán ist auch kein Hitler. Also…. oder meint ihr das wirklich ernst mit den Vergleichen?

Ich muss mich besser erkundigen.

Und ein bisschen Angst habe ich schon. Wovor eigentlich?

Davor, dass Ungarn eine faschistische Diktatur wird? Dass dort Menschen verfolgt und umgebracht werden? Oder einfach so massiv diskriminiert, dass sie nur noch leiden? Dass mein Lieblingstheater geschlossen wird? Mein Lieblingsdirektor ist ja schon entlassen worden.

Nein. Ich glaube am meisten habe ich davor Angst, dass ich vielleicht etwas nicht sehen könnte, nicht merken, wenn’s wirklich schlimm wird. Dass ich verdränge und mich selbst belüge, wenn es darum geht, der bitteren Wahrheit in die Augen zu schauen.

Oder, dass es sich herausstellt, dass meine liberalen, demokratischen und aufgeklärten Idole auch nur engstirnige, voreingenommene Parteipolitiker sind, von Eigennutz getriebene Arschlöcher. Das wäre fatal.

Neulich habe ich gelesen, dass politische Einstellungen vererbt werden. Sie sind genetisch bedingt. Das haben amerikanische Genforscher rausgefunden und renommierte Zeitungen haben darüber berichtet. „Die Zeit“ zum Beispiel.

Wenn das so ist, dann verstehe ich die Sache mit den Argumenten sofort. Denn das würde heißen, dass es einfacher ist sein Geschlecht zu verändern, als seine politische Einstellung. Welches Hormon macht aus einem Linksliberalen einen Rechtskonservativen? Oder umgekehrt?

Nicht schlimm. Das muss man nur wissen. Bevor man sich übermäßig aufregt, über die Dummheit der Anderen.

Neulich war ich wieder die einzige, die sich für eine Gartenparty aufgebrezelt hat. Ich trug lauter Kleidungsstücke aus einer Kreuzberger Boutiqe, trotzdem sagte mir mein Mann „du siehst so rumänisch aus“.  Ist klar.  Das ungarisch-rumänische Kleinstadtgen. Das verwandelt selbst teure Designerstücke in Billigware von Russenmarkt.

Es hat alles kein Zweck. Kostet nur Geld.

Bald werde ich mich sowieso heimlich in Viktor Orbán verlieben. Ungarische Frauen über 45 sind nämlich sehr gefährdet. Und dann, dann wird alles anders. Dann hat das Gen endgültig zugeschlagen. Dann fange ich an meine Haare zu toupieren und gehe auf Demos mit riesigen hellblauen Fahnen, um für die Autonomie der Ungarn zu kämpfen.

Deshalb sage ich  jetzt schon: Adieu, es war schön mit Euch!

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30 Antworten auf Der Mensch ohne Kopf

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  2. bela szilagyi sagt:

    Liebe Reka, Kathrin und Katika,
    ihr sucht ehrlich nach Klarheit in der Situation in und im Zusammenhang mit Ungarns jetziger Politik, und den Angriffen auf die Zweidrittel-Mehrheit-Regierung.
    Ich sehe die Situation als einen Entwicklungsprozeß von einer Diktatur zur Demokratie, und eine Selbstfindung eines Landes und einer Nation. Natürlich muß der Rückfall in eine Pseudodemokratie 2002-2010 korrigiert werden, die angegriffene Kultur verteidigt und die nationalen Gefühle geheilt werden.
    Reka, Du bist bestimmt irritiert durch die raffinierten Angriffe gegen Orban, als ob er allein alles tun würde, und als ob undemokratisch wäre für Ungarn, ihr Land und ihre Nation zu lieben. Die Zugehörigkeit zu einer Nation (Bibo!) gibt Orientierung und Kraft für die Bürger, die sich ihr zugehörig fühlen: Österreicher, Polen, Amerikaner, Franzosen usw. dürfen ihre Heimat lieben. Ungarn nicht, weil sie dann mit Fremdenhass beschuldigt werden.
    Und die Ungarn akzeptieren irgendwie diese Angriffe, wenn sie keine klare Antwort auf diese Anschuldigungen finden. Die Kritik der Liberalen und Sozialisten (leider auch der Grünen) klingt gut, weil sie weder das Land noch die Nation als Teil ihrer eigenen Identität empfinden. Sie interessieren sich nicht dafür, wie die Schäden, welche die Regierungen 2002-2010 angerichtet haben, repariert werden. Ihnen ist es auch nicht wichtig, daß durch die neuen Angriffe neue Schäden entstehen, z.B Ängste und Haß gegen die Ungarn, die angeblich Romas und Juden diskriminieren und verfolgen. Das erfahre ich auch in meinem Bekanntenkreis. Das bedeutet weniger Urlaub in Ungarn, weniger Investment in das Land usw.
    Großes Problem ist, daß die Ungarn immer noch nicht in der Lage sind, sich selbst effektiv zu verteidigen. Unsere Eltern oder andere dürfen ruhig konservativ sein. Die Vielfalt der Meinungen, Werte und Identitäten ist in einer Demokratie wichtig. Und wir (Du auch Reka) dürfen damit zufrieden sein, daß viele verschiedene Werte nebeneinander existieren und einander ergänzen: und wir gerade durch diese Vielfalt innerhalb unserer Kultur schon lange Europäer sind.
    Ich finde auch die richtige Worte nicht, daß diejenigen, die sich um dieses Land und diese Nation kümmern, sich dafür schämen sollten: das ist ein Skandal. Du dürftest Reka nicht verunsichert sein, daß Deine Eltern keine Liberalen sind. Sie lieben ihre ungarische Kultur und auch ihr Land Rumänien in ihrer Art. Sie haben dafür gekämpft, daß diese Kultur nicht untergeht und in den Ländern mit ungarischen “Minderheiten” unsere demokratischen Traditionen (ja, bißchen demokratisch war auch schon die “Aranybulla”) nicht zertreten werden. Wir dürfen dieses Land und diese Nation lieben und Du darfst Reka die Verunsicherung kundtun, daß die Angriffe gegen das Land und die Nation der Ungarn dir (auch vielen anderen und mir) Weh tun.
    Ich schätze übrigens Boris Kalnoky für seine Bemühungen sehr, eine differenzierte Meinung zu bilden. Nur das kann zu einer klareren Orientierung in der heutigen Welt führen, in der nicht mehr die neo-liberalen Werte bestimmend werden, sondern Werte in deren Mittelpunkt die Würde des Menschen steht: und leider wird heute diese Würde mächtig von denen angegriffen, die auf Orban als einen Diktator und Machtbesessenen losgehen und den Ungarn als Land und Nation pauschal die Fähigkeit zur Demokratie, Selbstkritik und Entwicklung absprechen.
    Sorry, wenn ich zu kompliziert war.

  3. Boris Kálnoky sagt:

    Es gibt einige, sogar sehr prominente Stimmen in Ungarn, und zwar links wie rechts, die privat mitunter sehr viel vernünftigere Dinge sagen als öffentlich. Täten sie es öffentlich, würden sie von ihren eigenen Leuten erbarmungslos demontiert. Das macht es so schwer, die Debatte zu entziffern, und noch schwerer, wenn man wie Réka versucht, die Mitte zu finden – denn in der Mitte wird man sofort attackiert, aus beiden Richtungen.

  4. Kathrin sagt:

    Hmm, Réka,

    die Leute, die uns alle umgeben, haben zu allem möglichen eine meinung. auch du. auch nicht zur genüge informiert. manchmal auch nur aus dem Bauch heraus. warum greift dich das an? weil du ungarin bist? und kritik an orbán kritik an dir bedeutet? das fände ich schade. denn es ist wahrlich nicht dasselbe. Der nationale Reflex, in den du mit diesem Blogeintrag verfällst, passt nicht zu dir.
    natürlich ist der hitler-vergleich absolut hohle Birne (ein weiterer nationaler Reflex – “guck mal, das war gar nicht so eine unique deutsche Sache!”). Am Ende aber ist es an dir, jenseits dessen, was andere sagen, dir eine meinung zu bilden. und für sie einzustehen. und sie zu verbreiten, an die, die du halbinformiert wähnst. Ungarn ist sicher nicht nazideutschland. aber auch nicht das schlaraffenland, das Katika uns hier zeichnet. Der Ethnopluralismus, auch Neorassismus genannt, der sich in der Verfassung spiegelt, darf Minderheiten Angst machen (da sie als Minderheit nun keinen Schutz mehr genießen, sondern in der Umkehr die Mehrheit bedrohen) und allen, die nach Ruhe und Sicherheit streben, gibt er das Gefühl, im Volk aufgehoben zu sein, selbst wenn sie in Berlin wohnen, sind sie doch Teil des Volkskörpers und willkommen daheim. Wenn man sich ansieht, wer da welche Vorschläge einbringt, ist klar, dass es sich hier nicht um einen Rechtsruck handelt. Das war schon immer da. Überall. Und es könnte der Anfang von etwas außerordentlich Unangenehmen sein. Nun kam ich nicht umhin, meine Meinung auch noch zu äußern, als Außenstehende. Darüber muss man reden können, gerade drum! Gerade mit dir, Réka, weil du erstens Ungarin bist, zweitens weißt, was es bedeutet einer Minderheit anzugehören und drittens einen Intellekt über Zimmertemperatur hast!

    • Katika sagt:

      Liebe Kathrin,

      Réka hat genau das getan, wofür ein Blog da ist: über etwas offen geredet, was ihr Angst macht. Nähmlich über die journalistische Stimmungsmache über Orbáns Politik und deren Auswirkungen bei den Menschen. Dabei wurde sie von keinem “nationalen Reflex” beeinflusst oder geführt, sondern lediglich durch den gesunden Menschenverstand. Sie sieht doch mit klaren Augen, dass in den Medien gehetzt und gejagt wird dort, wo nichts zu jagen ist. Zu behaupten, dass sie nur deswegen so argumentiert, weil sie eine Ungarin ist (und somit sich selbst gekränkt fühlt, wenn Orbán beleidigt wir), ist schon ein ziemlich starkes Stück.
      Ungarn ist in der Tat kein Schlaraffenland, es gibt Probleme, wie anderswo auch, und Orbán macht auch Fehler, wie jeder Politiker. Aber trotzdem sind alle Ortsschilder mehrsprachig dort, wo Minderheiten leben, und alle Minderheiten haben Schulen für ihre Kinder, Kulturzentren, Vereine sowie zuständige Beauftragten in den Gemeinden. Auch kein Mensch wird heute verfolgt wegen seinem Glauben. Frag mal Réka, wie es ist ein einem Land, wo keine Demokratie herrscht, denn sie kann da vieles erzählen.
      Und gerade WEIL sie Ungarin ist (unsere Kultur kennt), WEIL sie schon als Kind zu einer Minderheit eines kommunistischen Landes gehört hat (und somit den Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur ziemlich gut merkt), und WEIL sie einen klaren, wachen Verstand hat, der ihr verbietet, über unangenehme Sachen zu schweigen, nur weil sie unangenehm sind.
      Es ist nun mal manchmal unangenehm, gegen den Strom zu schwimmen, eigene Meinung zu haben. Und sie hat es, hat auch Recht dazu. Aber Réka ist eine geborene Künstlerin, die es liebt, auch ernsthafte Themen mit einem Augenzwinkern darzustellen, sich offen zu zeigen, das Menschliche dabei zu zeigen – mit lebenden Beisplielen vom Leben einer Mutter. Die persönliche Note, das Methapher mit der russischen Billigmodeware, Schwäche zu zeigen, sich Fragen zu stellen ist aber nicht zu verwechseln mit Vorurteilen und beschränktem Urteilsvermögen!
      Unvoreingenommenheit und Ehrlichkeit, ich danke dir, Réka, und von mir aus mach nur so weiter!

      • Kathrin sagt:

        Liebe Katika,

        ja genau das mach ich ja, ich frag sie (statt zu behaupten, da ist ein kleiner feiner unterschied). und ich werfe ihr auch keine vorurteile vor, weil sie nicht zu den menschen gehört, die vorurteile pflegen. und mit dem gegen den strom schwimmen kenn ich mich mich zufällig auch aus, der muskelkater ist zuweilen barbarisch. braucht reka dich als Anwältin? das bezweifle ich. sollte sie sich vereinnahmen lassen als sprachrohr für irgendeine Ideologie? das bezweifle ich auch. dein eifer ist enorm. worum geht es dir?

        • Kathrin sagt:

          PS: ob Rekas angst wirklich von der journaille beflügelt wird, sei mal dahin gestellt. die ist ja eher ein symptom von etwas größerem. So les ich das. Wenn ich freundlichst darf.

    • Réka Kincses sagt:

      Liebe Kathrin,

      Ich habe auch “zu allem möglichen eine Meinung”, das stimmt, aber hier geht es doch um meine Heimat. Was auch immer das ist. Dieses “sich darüber ärgern” zeigt mir grade, dass da etwas ist, was Emotionen hervorruft. Es geht mich was an.

      Im übrigen, mich regt es auch auf, wenn über die Griechen geschimpft wird, weil sie so furchtbar korrupt sind, bankrott und keine Steuern zahlen wollen. Die Griechen mit einem deutschem Maßstab zu messen finde ich pervers. Andere Leute haben Bücher geschrieben über den gravierenden unterschied zwischen apollonische und dionysische Kulturen.

      Für mich fehlt es da um Verständnis für kulturelle unterschiede. Die Ungarn lebten in der größten Teil ihrer Geschichte entweder unter Fremdherrschaft oder in Diktatur oder beides. Vor dem zweiten Weltkrieg herrschten dort noch halb-feudalistische Verhältnisse. Eine Demokratie, wie in England oder Frankreich oder Deutschland, konnte sich dort nie entwickeln (bis jetzt…).
      Ungarn muss Entwicklungen nachholen, da irgendwie hineinwachsen.
      Die Verfassung, die jetzt geändert wird, wurde aus dem Kommunismus übernommen. Trotzdem sind vielleicht viele Änderungen Schwachsinn, aber das muss alles in Relation gesehen werden. Diese Relation fehlt mir. Es wird mit gehobenem Zeigefinger geurteilt. Und das hilft nicht.

      Ich könnte auch sagen, ich scheisse auf Orbán, mir geht es um was ganz anderes. Darum, dass ich glaube, dass die Wahrheit irgendwo dazwischen liegt. Zwischen Daniel Cohn- Bendit und meiner Mutter.

      “Der nationale Reflex, in den du mit diesem Blogeintrag verfällst, passt nicht zu dir.” – das ist Urteil und Bewertung und du sagst, das darf nicht sein.

      Doch du weisst, der Grundsatz jeder Therapie, und so auch jeder Heilung heisst: alles darf sein. Auf der Ebene der Emotionen darf alles sein.
      Auch das dumme, irrationale, dreckige und dumpfbackige möchte geliebt werden. Selbst der kleine, innere Nazi. Und auch Den hat jeder, weil wir alles in uns haben. Oder, meinst du nicht?

      Kennst du das nicht, wenn du plötzlich emotional wirst , weil Leute sich über den Osten herziehen? Oder sonst was? Wo ist der Punkt, das dein “Reflex” auslöst? Vielleicht ist der nicht direkt “national” aber doch irgendwo ähnlich? Oder ganz anders? Das wäre doch eine interessante Überlegung.

      Vielleicht hast du solche Reflexe nicht. Dann wärst Du ein erstaunliches Wesen. Aber aus anderen Gründen, als ich sonst dachte -:)

      • Kathrin sagt:

        Liebe Réka,

        für mich bist und bleibst du ein Wunderwesen mit einem tiefen verständnis für ebenen zu denen die meisten nie vordringen (wollen).
        ich hab in den letzten Tagen viel nachgedacht über deine letzten blogs, besonders diesen, auch über dein Heimweh und darüber, dass es schlimm sein muss hier zu sitzen, verstehen zu wollen und mit sicher viel unwissender meinung konfrontiert zu sein (als Deutschbacke kommen mir leider ungewollt und doch spontan die Exilanten der 30er Jahre ins Hirn, aber vielleicht ist das wirklich immer ein Grundmuster, wenn jemand seine Heimat verlässt und diese sich verändert, dass es wehtut und man einfach nicht verstanden werden KANN im fremden Land). beim lesen deutscher Zeitungen kann einem so manches hochkommen, das geht mir nicht anders. Ich weiß nicht, im kommentieren eines blogs bleibt vieles ungesagt und vieles unbeantwortet und vieles auch schlicht unverstanden. das hat der blog wohl so an sich. Du dockst mit deinen letzten Texten irgendwo in mir drin an und ich wünschte wir hätten irgendwann die zeit, ohne kinder, männer und sonstiges Gedöns mal die Nacht durchzusaufen und über all das zu sprechen, als wären wir noch jung und wild und bereit für die große Veränderung:-)
        Heimat ist eins, aber Nationalismus ist meiner Meinung nach nicht dasselbe, und einer von uns hat es verwechselt (ja, wahrscheinlich war ich das :-) ). Je mehr ich versuche, dahinter zu kommen, worum es hier geht bei dir – desto mehr bewundere ich dich wieder, deine Offenheit und deine Unerschrockenheit allem gegenüber, was in deinen Tiefen lauert. Aber weißt du, ich bin zwar ne Deutsche, aber Griechenland, Ungarn, Polen und nicht zuletzt Deutschland (mit dem mich irgendwie nix verbindet, weil ich – inzwischen seh ich das manchmal so – das Privileg besitze, aus einem Land zu kommen, das nicht mehr existiert und das einzige, was mich in der Hinsicht quält die Frage ist, wer ich geworden wäre in diesem Land, Opportunistin, Dissidentin oder einfach gescheiterte Kommunistin) – das macht auch mir Angst. ich würde auch nicht unterschreiben, dass wir in einer Demokratie leben. Du sprichst unglaublich komplexe Themen an, und das hochemotional – dafür ist er da der Blog, das ist seine Stärke und auch seine Wirkungskraft. Danke für deine Antwort.

        • fulofatam sagt:

          Ich finde es sehr sehr bedauerlich, dass so ein Satz
          “alle Minderheiten haben Schulen für ihre Kinder, Kulturzentren, Vereine sowie zuständige Beauftragten in den Gemeinden”
          hier unkommentiert stehen kann.
          Ich war nur Gast, aber ich habe mir von einer ungarischen Delegation berichten lassen von ihrer Reise zu Roma-Siedlungen. Das was ich da erlebt habe, das lässt mich bei diesem Satz nach Luft schnappen.
          Und das führt dazu, dass ich die politische Einschätzung Ungarns von jemanden, der sowas im Brustton der Überzeugung von sich gibt, nicht mehr für voll nehmen kann.

          Mach
          die
          Augen
          auf.

          (nein, ich lebe nicht in Ungarn, aber ich erlebe meine ungarischen Kollegen und ihre tiefe Trauer, wenn sie aus ihrer Heimat zurück kommen, und ihre Angst, dass ihre Heimat vor die Hunde geht)

          Köszi an Réka für den Text

  5. Roderick Beck sagt:

    Réka,

    Demokratie ist keine Diktatur der Mehrheit.

    Fidesz hat nur einen Zweck. Absolute Macht. Und absolute Macht korrumpiert absolut. Fidesz Fernsehen. Fidesz Gerichte. Fidesz Radio.

    Ich bin Amerikaner und lebe in Budapest. Ihr Verständnis von Demokratie ist sehr schwach.

    • Katika sagt:

      Lieber Amerikaner,

      Hatte MSZP nicht den selben Zweck, nämlich absoluter Macht? Oder wollen die “linke” Politiker ihr Amt nach der Legislaturperiode freiwillig abgeben – “Nein danke, es war schön und gut, aber jetzt sollen auch mal die Anderen ran, denn so ist es demokratischer”?
      Wird Obama freiwillig einen Republikanern als seinen Nachfolger ernennen? Wollen doch nicht alle den selben: absoluter und ewiger Macht, vorausgesetzt, sie sind Politiker?

      Und ehrlich, lieber Amerikaner, es ist doch auch bei Euch so.

      Worüber reden wir dann?

      • Kathrin sagt:

        Katika,

        die Amerikaner, die Deutschen, sprich doch mal bitte nicht die Nation an, der wir hier jeweils entstammen. Nationen sprechen nicht miteinander, sondern Menschen. Oder hab ich verpasst, das Roderick Beck eigentlich Obama ist? Nur weil es woanders auch scheiße ist, dürfen wir es uns im kackehaufen doch nicht bequem machen.

    • Wie kommen Sie darauf, Réka über Ihr Verständnis von Demokratie belehren zu können und es in Frage stellen zu können? Und mit Verlaub: Die Verbindung der Aussage, Sie seien Amerikaner und “Ihr Verständnis von Demokratie ist sehr schwach” ist schon ziemlich überheblich, mein werter transatlantischer Freund! Auch bei HV hatten Sie mal so ein plattes statement Herrn Kálnoky hingeschleudert, auf Nachfrage aber dann nicht mehr reagiert. Echt demokratisch :-)

      Das ist ein emotionaler Text, der gut aufzeigt, wie sich manch einer fühlt, der von den “Ungarnexperten” hierzulande zur Rede gestellt wird. Réka hat, so verstehe ich den Text, Orbán gar nicht gerechtfertigt, sondern nur geschildert, was ihre Eltern sagen. Das Ende des Textes werden hoffentlich auch Sie als Ironie entziffert haben?

  6. galut sagt:

    Liebe Réka,

    ich habe Balkan Champions gemocht, als der damals im Fernsehen lief. Habe in deinen Eltern meine wiedererkannt – kein Wunder bei nur 150 km Entfernung und dem gleichen ethnischen Hintergrund.
    Habe jetzt deinen Blog entdeckt – über den Link bei HV und ein bisschen gestöbert. Deine Texte gefallen mir sehr gut.
    Bis auf diesen hier. Wieso dieser mir nicht gefällt, weiß ich noch nicht. Ich muss noch über ihn nachdenken. Aber insgesamt erscheint er mir leer an Argumenten und Inhalten zu sein, dafür reich an Poetischem. Das ist zwar an sich schön und gut und es wäre wenig dagegen zu sagen, wenn dieses Poetische, indem es keine kritisch-analytische Aussage über das heutige Ungarn aufweist, das am heutigen Ungarn sehr wohl kritikwürdige verdecken und verharmlosen würde.
    Weißt du, zwei Zitate schwirren mir momentan im Kopf: “bünösök közt cinkos aki hallgat” (József?Radnóti??Babits???) und “Was sind das für Zeiten, wo
    Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist.
    Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt! ” (Brecht)
    Und dein Text, so sehr ich ihn nachvollziehen, aber nicht billigen kann, scheint mir irgendwie dazu zu passen.
    Und ich bin hin und her gerissen, denn auch ich rege mich darüber auf, dass sich Leute apodiktische Urteile über Ungarn bilden, die doch ansonsten null Ahnung bei großer Klappe haben. Doch trotz dieser Ahnungslosigkeit der bundesrepublikanischen Meinungsmacher kann doch nicht geleugnet werden, dass selbst bei großer, bei größter Sympathie für Ungarn -und wer sollte eine größere haben, wenn nicht ehem. Angehörige einer ungarischen Minderheit aus einem Nachbarland?- also dass selbst bei größter Sympathie für Ungarn im Lande doch einiges im Argen liegt.
    Doch hierauf wirft dein Text kein Licht – nicht einmal im Reich der Metaphern. Daher bin ich zugleich unzufrieden mit dem Text, obzwar ich ihn mit Interesse gelesen.

    • Katika sagt:

      Lieber galut,

      Ich akzeptiere deine Meinung, wenngleich es aus deinem Text überhaupt nicht ersichtlich wird, was die ist – Rékas Meinung hingegen ist aber ziemlich genau zu erkennen, denn sie sagt einfach, was sie meint. Deswegen mag ich sie auch so sehr, unter anderem. Einerseits magst du Ungarn, aber auch nicht. Réka soll deiner Meinung nach etwas verschwiegen haben, was das ist, verrätst du uns aber auch nicht. Du zitierst “vétkes, bűnös, cinkos” = auf Deutsch der Schuldige, der Mittäter, der Mitwisser, im anderen Zitat lesen wir über Brecht und Untaten…
      Entschuldigung, aber worüber redest du? Réka ist weder Mitwisser, noch Schuldige! Sie war es auch nie. Und was für Schuld soll es sein?
      Und “einiges im Argen liegt” – entschuldigung, aber in welchem Land liegt NICHTS im Argen?
      Ehrliche und aufrichtige Leute sagen genau, was sie meinen. Die anderen machen nur Laune, oder noch schlimmer, manipulieren.

      Schöner wäre es, wenn du wüstest, wieso Rékas Text dir nicht gefällt.

    • Lieber galut, nun treffen wir uns mal hier:-).

      Meine Empfindungen bei dem Text waren andere. Es geht um Emotionen. Das, was einem im Kopf rumwirbelt, wenn man die deutsche Presse liest oder von Freunden auf “Deine Naziheimat” angesprochen wird. Lieber galut, lass Réka doch einfach ihre Empfindungen schildern, ganz ohne wissenschaftlichen Anspruch. Ich fand den Text lesenswert. Er gibt keine Antworten, ja. Aber muss er das denn zwingend? Er hinterlässt Fragezeichen. Vor allem: VERSTEHE ICH DIE POLITIK UNGARNS WIRKLICH? Diese Frage sollten sich viele stellen. Tun sie aber nicht.

      • galut sagt:

        Liebe Katika, lieber HV,

        mir war gestern schon bewusst, dass der Text von Réka eine (als solche sehr sympathische) spontane und emotionale Reaktion auf unterschiedliche Vorwürfe und Meinungen von Durchschnittsdeutschen darstellt. Die Emotionalität ist es auch, was mir gefällt am Text.

        D.h. ich bin mir schon dessen bewusst, dass hier keine politologische Analyse bezweckt/angestrebt wurde.
        Und dennoch hätte ich es mir gewünscht, dass sie etwa in ihrem Gespräch mit ihren Eltern schon noch ein paar unbequeme Tatsachen anspricht, die keine Interpretationen darstellen, sondern einfach zu kritisieren sind. Ich meine in etwa den Wass- oder Nyirö-Kult, der offiziell gemacht wurde, ich meine die Auszeichnung dieses Fernsehmoderators usw. Das meinte ich u.a. mit “es liegt einiges im Argen”, was verdeckt wird, wenn man darüber nicht spricht. Emotionalität und Poetisches – ist ja schön und gut, aber etwas mehr Distanz hätte ich mir schon gewünscht.
        Lediglich das war es, was ich gestern ausdrücken wollte.

        Ich weiß jedoch, es sehen dies nicht alle so.

        • hausdrachen sagt:

          Lieber Galut,

          Ich finde Deine Reaktion auf meinen Text sehr ambivalent, einerseits sympathisch, andererseits irgendwie nicht. Für mich ist das ein guter Spiegel, denn ich bin auch sehr ambivalent, was die Lage in Ungarn betrifft.
          Statt klare Position zu beziehen, möchte ich mir diesen Luxus rausnehmen und so lange Ambivalent bleiben, hin-und Hergerissen oder voll daneben zu sein, bis ich eine echte Klarheit habe. Eine, die meine ist, und weder die von meiner Mutter noch die von der Süddeutschen Zeitung.

          Denn es ist nicht wenig, worum es geht.

          Und ich danke wirklich für die ausführlichen Kommentare.

  7. Roderick Beck sagt:

    Only a fool would deny that Fidesz has weakened Hungary’s democracy. From the appointment of the godmother of Viktor’s Orbán’s children to select all new Hungarian judges to the packing of the Courts, Central Bank, Media Authority, and Hungarian Public Media with Fidesz party members, many of whom have shown far more loyalty to Fidesz than to the institutions.

    I challenge any Fidesz support to challenge my supporter. You will not.

    • Katika sagt:

      You’re maybe right, Fidesz aspire to concentrate the legitime power. But there is a reason why this is not a harrassment: this party has not the ambition to harm our nation, but they want long-term stability in Hungary. Of course they want also personal influence and power, like every political participant. But, such a tiny country can not be favorable in case that every four years would be changed all the ministers, bank directors, theater directors, school directors and other important persons. No one company could succesful operate by this way, changing all the executives every 4 years, so why a country? The Hungarians will economical prosperity, stability AND peace. There is no reason to think Orbán could not give them all this. Remember, he was our minister a few years ago, and these were stable, contented and untroubled years.

      • Kathrin sagt:

        “No one company could succesful operate by this way, changing all the executives every 4 years, so why a country?”
        Because a country is not a company. Und dafür sollten wir dankbar sein. Oder möchtest du gern vom CEO von Siemens regiert werden?

    • hausdrachen sagt:

      Lieber Rod,

      Du bist sehr wütend, dass sehe ich und Wut ist etwas, das ich gut kenne.

      Ich spreche Dich persönlich an, weil mein Blog ja ein persönlicher ist.

      Deine Wut, die ist so groß, dass du mir irgendwie weh tun musst. Auch das kenne und verstehe ich. Meistens will man andere verletzen, wenn man selbst verletzt ist, wenn etwas weh tut. Rod, ich kenne Dich nicht, aber ich glaube da ist Schmerz hinter Deiner Wut.
      Weisst Du, hinter meinem Hin- und Her Gerissenheit ist auch Schmerz. Schmerz darüber, dass es einem Land nicht gut geht, das ich doch sehr Liebe, dass meine Freunde, Familie und Verwandte, Bekannte und Kollegen sich hassen und anfeinden wegen Politik. Das ist sehr Schmerzahft Rod, und genau da, beim gemeinsamen Schmerz könnte man sich treffen

      Weiss du, wenn Du sagst:

      “Only a fool would deny that Fidesz has weakened Hungary’s democracy.” – dann mag das zwar irgendwie stimmen, aber (wenn wir jetzt kein Diskurs darüber eröffnen, wie “Demokratie” und wie “verrückt” genau zu definieren ist) das heisst für mich, dass meine beiden Eltern verrückt sind.

      Auch das kann stimmen, und auch dieser Wahrheit muss man unter umständen in die Augen schauen, aber – erlaube mir hier Schwach zu sein – vielleicht brauche ich dann einen Moment Zeit um das zu verarbeiten. Um ein wenig vorher zu Zweifeln und hin- und her gerissen zu sein.

      Mich würde interessieren, Rod, wo du herkommst. Wie zum Beispiel Deine Eltern über Politik gedacht haben? Hast Du Dir schon mal darüber Gedanken gemacht, wie tief Deine Überzeugungen Zurückreichen? wo sie Ihren Anfang genommen haben und all sowas?

      WAS man sagt, ist undenlich variabel. Aber WER es sagt, das mach es interessant.

  8. Katika sagt:

    Liebe Réka, du schreibst von meinen Herzen! 
    Über Ungarn wird in der letzten Zeit sehr viel Scheisse in den Medien verbreitet, das ist in der Tat so. Das heisst: viele Journalisten sind jetzt in dieser Richtung aktiv, aber die sagen nicht unbedingt die Wahrheit, sondern das, wofür man sie bezahlt. Wissen wir Erwachsene alle sehr gut.
    Wer ist links, wer ist rechts, wo ist links, wo ist rechts? Sehr gute Fragen ohne Antwort. In Wirklichkeit werden die östlichen UND westlichen Demokratien langsam schon so erwachsen, dass sie kapieren, dass in der 21. Jahrhundert solche Richtungen gar nicht mehr existieren. Es gibt nur noch unternehmenspolitische Geheimhaltungsinteressen und andere, ähnlich feine Begriffe. Links und rechts aber schon lange nicht mehr.
    Ist Deutschland links oder rechts? Ich habe im Jahre 1993 drei Monate lang in Berlin gelebt, in Altglienicke, das ist ganz südöstlich von allem, was zentral liegt. Wir waren noch nicht verheiratet, haben in einer Einzimmerwohnung ohne Zentralheizung gelebt, mein Freund Student, ich jobsuchende Ausländerin mit begrenzter Aufenthaltsgenehmigung. Ich habe in Ungarn aufgewachsen, in einer ziemlich toleranten und multikulturellen Gesellschaft. Mit Freundeskreis aus Katholiken, Reformierten, Juden und Atheisten, mit Familienangehörigen von Transsylvanien bis Los Angeles. Bei uns war nur das Herz wichtig, niemals die Herkunft. Ja, vielleicht war meine Familie etwas Besonderes. Aber was ich in Berlin erlebt habe, war das Grauen, etwas, was ich in Ungarn vorher nie erlebt habe.
    Ich erinnere mich noch an den kleinen Jungen, 6 oder 7 Jahre alt, sauber und ordentlich gekleidet, schwarzafrikanischem Herkunft mit krausem Haar, der mit Schulranzen am Rücken im Bus von einem sehr alten Herren angeschrien und aufs Tiefstem verletzt wurde. Der ca. 80 Jahre alte Herr hat gebrüllt, dass alle ihn hören, dass der Junge verschwinden soll, zurück in seine scheiss Heimat, dass er Neger sei, dass er hier nichts zu suchen hat, und als der alte Herr ausgestiegen war, zum Abschied hat er noch einmal zum Jungen gesagt: Hitler hatte Recht! Im Bus waren alle still, wie im Friedhof. Ich auch. Ich habe später daran gedacht, wie gut, dass der kleine Junge in der Schule noch keine Geschichte gelernt hat, denn so hat er wenigstens den letzten Satz nicht verstanden. Aber das Wesentliche hat er verstanden: dass er gehasst wird, zumindest von einigen Leuten.
    So habe ich mich nächstes Mal gar nicht mehr gewundert, dass der Busfahrer mich nicht verstanden wollte, als ich – um meine schönste deutsche Aussprache bemüht -, folgenden Satz zu ihm gesagt habe: „Bitte eine Fahrkarte bis Wilmersdorf.“ Viermal musste ich diesen Satz wiederholen, laut und deutlich, bis ich meine Fahrkarte bekam.
    Als ich mich irgendwann in der Nähe vom Hauptbahnhof in eine öffentliche Toilette begeben habe und dort die 20 Pfennig für den Toilettengang bezahlt habe, hat mich die ältere, verbitterte Toilettendame mit den folgenden Worten beschimpft: „Wo kommst du her? Was bist du? Geh zum Teufel!“ Und hat mich raus gejagt. Mein damaliger Freund hat mich mit Resignation getröstet, er kannte ja die Situation, er kam als ein Mitglied einer ethnischen „Minderheit“ aus einem Land aus dem Ostblock.
    Sicherlich habe ich nur Pech gehabt, denn viele andere lieben Berlin. Und es ist auch lange her, unweit von der ausländerfeindlichen Krawalle in Rostock-Lichtenhagen in 1992… Auf jeden Fall habe ich mich dann gefreut, in die Allgäuer Alpen zu ziehen. Dort waren alle nett.
    Ulm habe ich auch geliebt, eine tolerante, weltoffene Stadt. Mich als ungarische Krankenschwester haben alle gemocht im Schwabenland, ich habe dort 12 Jahre lang nur schöne Zeiten erlebt. Meine Ostdeutsche Kolleginnen haben es schon viel schwerer gehabt. Patienten und Angehörige haben sie ohne Grund aufs schlimmste beschimpft und verbal zurückgeschickt nach „Ostdeutschland“. Und in Süddeutschland einen Job zu finden als Ostdeutsche? Da hätte ich als Ungarin bessere Chancen gehabt. Wie nennen wir das? Links oder rechts?
    Sogar in deutschen Kindersendungen wird in der letzten Zeit thematisiert, dass Ungarns Verfassung ungerechter wurde und damit EVENTUELL eine Diktatur droht – gleichzeitig erhalte ich aber für meinen chronisch kranken Sohn mehr Kindergeld und viele andere Subventionen seit diesem April, dank der ungarischen Regierung. Darüber schreibt niemand. Die Regierung kümmert sich auch darum, dass Kinder in Schulen, Kindergärten und Horten gesünderes Essen bekommen als bis jetzt. In Süddeutschland muss die Mutter selber kochen für ihr kleines Kind. Darüber schreibt auch niemand. Als ich alleinerziehende Mutter von 2 Kindern, ohne Vitamin „B“, in Budapest einen guten Job suchte, habe ich welche binnen 5 Tagen bekommen. Darüber schreibt auch niemand. Dass Ungarn und die EU viel Geld in benachteiligte, ärmere Teile des Landes pumpt und damit Mengen von Arbeitsplätzen entstehen lässt, schreiben die auch nicht. Und dass auch hier Biobauernhöfe existieren und schulfördernde Massnahmen für benachteiligte Romakinder entstehen. Und ja, für Energie müssen wir ab jetzt auch weniger zahlen.
    Darüber schreibt auch niemand, dass die Wirtschaft immer stabiler wird und die ausländischen Firmen, die hierher kommen, sehr gerne in dieses Land kommen und auch hier bleiben. Dass auch dadurch sehr viele neue Arbeitsplätze entstehen, durch Firmen aus dem Ausland. Und dass immer mehr Touristen auch aus dem ehemaligen Ostblock zu uns kommen, und nach den Deutschen und Österreichern jetzt auch die Rumänen, Serben und Slowaken bei uns Ferien machen, weil sie hier gerne gesehen und freundlich empfangen werden. Weil Ungarn schon immer ein offenes und freundliches Land war, ein richtiger Schmelztegel, wo die ethnischen Probleme vor Allem durch Politiker und Journalisten aufrechterhalten werden müssen, weil wir Leute aus dem Bus sie nicht freiwillig aufrechterhalten werden.
    Wenn du in Ungarn älter bist, sichtbar müde oder krank oder mit Kinder unterwegs bist, kannst du dich darauf verlassen, dass dir andere Leute im öffentlichen Verkehrsmittel Plätze anbieten, noch bevor du darum bittest – egal welche Hautfarbe oder Abstammung du besitzt. In Deutschland habe ich das Gegenteil erlebt, dort hat der 25 jährige energiegeladene Student die mit schweren Einkaufstaschen beladene, todmüde Hausfrau großmütig darüber aufgeklärt, dass er ebenso ein Recht hat zu sitzen, wie sie. Und schon wieder im Bus – nicht gelesen, sondern hautnah erlebt.
    Was ist wichtiger? Verfassung oder Moral? Wenn ihr lieben fleißigen Journalisten etwas über Ungerechtigkeit im Bezug auf Anderssein schreiben wollt, dann gucke mal ein bisschen weiter nördlich von Ungarn und frage die Slowakische Behörden, ob Ihr die doppelte Staatsangehörigkeit besitzen dürft… Wahrscheinlich ist es aber ein Thema mit schlechterer Bezahlung.
    Und noch was: frag die Leute in Ungarn auf der Strasse – oder im Bus: keiner will Veränderung, keiner will Orbán vertreiben, die alle wollen nur endlich Stabilität und Ruhe. Ohne links und rechts.

  9. Pingback: Empfehlung: “Der Mensch ohne Kopf” – Gedanken zu Ungarn von Réka Kincses | Hungarian Voice - Ungarn News Blog

  10. Boris Kálnoky sagt:

    alig várom :)

  11. Sofasophia sagt:

    wer weiss wirklich bescheid? wenn man zu nahe dran ist, ist die sicht unscharf. ist man zu weit weg, sieht man die details nicht.
    objektivität ist nicht nur bei skypebildern sehr schwierig … deine annäherung an die politische situation deiner heimat berührt, weil du so viele ebenen ansprichst und zugleich liebevoll als auch selbstkritisch bist.

    ein aufwühlender text ist dir da ein weiteres mal gelungen.

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