Arabella

Ich nenne sie Arabella. Sie ist zehn Jahre alt, die jüngste in der Familie. Es gibt eine lange Liste von Sachen, die Arabella in ihrem kurzen Leben schon verweigerte. Sie wollte zum Beispiel nicht lesen lernen. Und schreiben auch nicht. Ihre Eltern zwangen sie zum Nachhilfeunterricht damit sie nicht auf eine Sonderschule muss. Arabella ist ein sonderbares Kind. Sie wiegt immer zwei Kilo weniger, als die Grenze zum Untergewicht. Sie hatte schon die Muttermilch ausgespuckt. Die Ärzte sind in Panik geraten, weil sie gar nichts essen wollte. Sie lag Wochenlang im Brutkasten, die Augen immer offen, die Nase riesig, wie von einem Erwachsenen. Sie sah nicht wie ein Säugling aus und wurde über Schläuche ernährt. Die Krankenschwester fanden sie unheimlich. In der Nacht hat sich keiner in den Raum getraut, wo sie lag, weil sie jeden anstarrte. Ihr Blick hatte die Wachsamkeit eines Wesens mit vollem Bewusstsein und ohne jegliche Erfahrung. Sie schien nie zu schlafen. Krank war sie auch nicht. Sie weigerte sich.
Später, als kleines Mädchen, beschäftigte sich Arabella nur mit sich selbst. Sie freundete sich mit niemandem an und kommunizierte kaum. Ein angenehmes Kind für die Familie, die es sowieso lästig fand sich mit Kindern zu beschäftigen.
Das erste Ding, woran Arabella reges Interesse zeigte, war das Sterbebett ihrer Oma Gertrud. Gertrud regierte jahrzehntelang diese Familie, und ihr Regime war eine Diktatur. Sie wurde von der ganzen Familie gehasst. Als Gertrud am sterben lag vermieden die Leute ihren Zimmer und warteten darauf, dass es endlich vorbei ist. Es blieb aus ihr auch nicht viel mehr, als ihre Nase übrig. Sie magerte ab, fast bis zum Unsichtbarsein und verlor jegliches Gedächtnis. Manchmal lag sie tagelang unbewegt da. Es stank höllisch um sie herum.
Arabella stellte sich zu ihrem Bett und kämmte ihre Haare. Gertrud hatte einen ungebrochenen, unbändigen Haarwuchs bis zum letzten Moment, als wäre die ganze Lebenskraft in die Haare gewichen. Arabella redete zu ihr und beantwortete ihre Fragen, die sie nicht mehr stellen konnte. Als Gertrud paar Wochen später starb, wusch sie Arabella mit einer der Krankenschwester zusammen und puderte ihr Gesicht, während die Familie draußen laut aß und feierte.
“Ich habe die Oma sehr lieb gewonnen” –  sagte sie später. “Warum das denn, sie war doch nie lieb zu dir!” – wunderte sich ihr Vater. Ja, aber ICH war lieb zu ihr- sagte Arabella und aß ein Butterbrot.

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Eine Antwort auf Arabella

  1. Boris sagt:

    So fängt der Montag gleich viel besser an, wenn man so etwas Schönes lesen kann. Gerade noch war ich mürrisch. Ich geh schnell mal irgendwo lieb sein.

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