Der zahnlose Löwe

Der zahnlose Löwe

Opa, es ist schon ganz spät. Willst du nicht mal nach Hause gehen? Wo sind deine Zähne hin Opa? - Ich habe aus versehen in euer Kaugummi gebissen.

Vater, willst du heute nicht nach Hause gehen? Oh Gott, soll ich deine Prothese sauber machen?  Opa lächelt, wie ein zahnloser Löwe und nickt.

Meine Oma und ihre Eltern sitzen um den großen, schwarzen Esstisch herum. Drei armenische Nasen, drei armenische Mundwinkel, kaukasischer Film mit ungarischen Untertiteln. Urgroßmutter hat ihre Haare zu Wasserwellen verarbeitet, sie trägt Korsett und dunkelgrünes Seidenkleid. Urgroßvaters Kopf ist in zwei geteilt und glänzt von Brillantine.

Weißer Stehkragen, Schnauzbart. An den Fingern das Geruch von Medizinfläschchen und Prostituiertenmösen. Urgroßmutter ist frigide, zumindest behauptet sie das von sich, sie schickt meinen Urgroßvater in den Puff. Immer am Nachmittag, wenn er die Apotheke geschlossen hat. Zu Fuß zum Hauptplatz, mit der Kutsche zum Puff. Niemand soll merken, dass er es ist.

Du alter Esel, sagt meine Urgroßmutter zu ihm. Es ist lieb gemeint.

Meine Oma Ádi, früher Klosterschülerin und Nonnenliebling, mit riesiger Nase und Stirn bis zu den Schamhaaren, ist die erste Studentin der Pharmazeutischen Universität Bukarest, in weißem Abendkleid zwischen zweihundertfünf schwarzen Männern. Ihre Ausstrahlung erinnert an Strafarbeit und an einsame Stunden in der Ecke, verbracht mit Mais unter den Knien.

Ádi, es gibt einen netten, gutaussehenden  jungen Mann, du solltest ihn kennen lernen – sagen die Urgroßeltern zu ihr. Apotheker ist er. Sein Name ist Miska. Sehr intelligent und tüchtig. Ein armes Waisenkind. Seine Mutter ist gestorben, als er noch klein war und seine Oma hat sich ertränkt. Stell dir vor, sie ist in den Garten gegangen und hielt ihr Kopf so lange in die Regentonne bis sie tot war. Was für eine Willenskraft. – Meine Oma fixiert ein impressionistisches Gemälde an der Wand,  junge Frau in weiß, mit Blumen auf der Brust. Es ist kaum zu erkennen, dass sie das selbst ist. Sanft und weich, mit einer halb so großen Nase, wie in echt. Sonnenschein und Glanz, das Geruch der  Ölfarbe. Kurz wird die Strafarbeit eingestellt sie lockert ihre Knie. Ich will keinen Apotheker heiraten – sagt sie. Ich bin doch selber Apothekerin.

Die Wiesen, die Düfte, das in der Sonne trocknende Weizenfeld. Männerunterhosen im Wind. Meine Urgroßmutter, die alte Àdi seufzt, der Esstisch liegt niedergestreckt wie ein toter Panther unter ihren Fingern. Langsam wird es dunkel.  Der arme Junge, er ist mit einer verrückten Tante groß geworden, die Angst vor Gewitter hatte. Wenn es donnerte sperrte sich diese Tante in die Speisekammer und brüllte unartikuliert. Der Arme, der arme junge Mann. Und so tüchtig. Miska.

Das perfekte Blumenbeet, die Hecke, Kompottgläser, Marmeladengläser, handbestickte Zierdecke, tote Tauben.

Urgroßmutter nimmt den Rosenkranz in die Hand. Schöner Junge, kluger Junge, schöner Junge, kluger Junge. Urgroßvater schneidet sich einen Stück von Eszti nénis Bauernbrot ab und kaut leise.

Und du, meine liebe Tochter, du bist hässlich, versteh doch Ádi, hässlich bist du, leider, nie wird dich jemand freiwillig heiraten. Es sei denn, er ist Arm und muss. Ádi springt hoch und klopft heftig an der Stirn ihrer Mutter. Sie sind blöd Frau Mutter, der berühmteste Maler Siebenbürgens hat von mir ein Portrait gemalt!

Urgroßmutter winkt ab. Ach was, Maler.

Vater. Es ist schon mitten in der Nacht. Warum gehst du nicht nach Hause? - Eure Mutter schreit. - Warum? Opa lächelt hilflos und verloren und zuckt seine Achsel.

Oma klopft an der Stirn ihrer Mutter. Sie will etwas öffnen, das Zeit ihres Lebens verschlossen bleibt. Verstehen sie nicht, Mutter? Verstehen sie nicht?

Mutter isst immer alleine zu Abend, damit sie nicht stört. Ein wenig Speck, ein wenig Zwiebeln. Sie versteht nicht, warum man an ihren Stirn klopft. Sie betet, isst Speck. Der Puffbesucher mit Brillantine in den Haaren ist schon lange an dem schwarzen Esstisch verstorben. Sein Kopf im Porzellanteller von Herend. Seine unerfüllte Sehnsucht nach Liebe als nasser Knutschfleck an der Backe seiner, sich vor ihm ekelnder Enkelkinder.

Miskaaaa, Miskaaaa – schreit meine Oma, wenn sie eine Weile umsonst an dem Kopf ihrer Mutter geklopft hat – trinkst du schon wieder Kakao? Das Kakao ist für die Enkel! - Für die Enkel die immer das Brot von gestern und die Suppe von Vorgestern essen müssen, alles abgestanden und leicht verschimmelt, die Nachts ihre Socken nicht ausziehen und sich nicht im Spiegel betrachten dürfen, damit sie nicht eitel werden. Für die wir nie den Ofen anheizen, für die wir nie was leckeres kochen, mit denen wir nie spielen. Für die ist das Kakao, das du so gerne trinken würdest, Miska.

Nimm das Kaugummi aus dem Mund, sonst klebt deine Prothese für immer an dem Gaumensegel. Heute ist es vierzig Jahre her, dass du mich dem Zimmermädchen betrogen hast.

Und ist das so? - Durch den Hof , über die Beete, zwischen den Tannenzweigen, den zerrissenen Resten des impressionistischen Ölbildes hindurch hört man meine Oma Miskaaaaaaa rufen. Opa runzelt die Stirn - Ich weiß es nicht mehr. ich habe es vergessen.

 

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4 Antworten auf Der zahnlose Löwe

  1. Boris Kálnoky sagt:

    Wowowow! Ganz links oben in der Ecke, die Jugendstil(?)-Frauenmaske, was ist das? Heizung???? Ich werde nicht mehr aufhören, davon zu träumen, ich muss das haben!

  2. Daniel sagt:

    Zwischen all dem schrecklichen schimmert doch immer etwas schönes hervor. Vielleicht ist es nur die Erinnerung an die geglückte Flucht aus so einer angespannten Atmosphäre. Zum Beispiel die Flucht in die Welt der Fasern. Die Fasern eines von der Sonne beschienenen, erwärmten grünen Velourteppichbodens. Man muss sich ganz klein machen und auf den Boden legen, um in diese Mikrowelt eintauchen zu können. Dort ist nur noch das leise Knistern der Plastikfasern zu hören und der von ihren Wurzeln aufsteigende, Sonnenlicht reflektierende Staub zu sehen.

    • Réka Kincses sagt:

      Lieber Daniel,

      ich weiss, was du meinst, diese Flucht in Mikrowelten, das festhalten an einem Sonnenfleck oder an einer Kaffeetasse, wenn die Welt grade untergeht. Dieses angenehme Vogel-Strauß Gefühl. Schade, das man immer-wieder entdeckt und zurückgzerrt wird.

  3. Beatrice sagt:

    Liebe Réka,
    an dieses Foto erinnere ich mich, ich liebe es. Jeder so für sich und die Generationen getrennt durch die riesengroße Kasse. Die Alten in der Mitte und die Jungen in die Ecke gedrückt. Eine gute Aufstellung.
    Auf dass uns die Zähne nicht so schnell ausfallen und wir noch lange zubeißen können (und uns erinnern)!

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