„Ab jetzt 93 Minuten“.
Die Todeszelle ist eng, die letzte Mahlzeit habe ich nicht bestellt. Was bringt es, wenn ich sowieso krepieren muss. Gebeichtet habe ich auch schon genug. Jetzt geht es nur noch darum, das bisschen Zeit abzusitzen, und dann diesen Weg zu laufen, durch die Tür hinaus, den Flur entlang, links abbiegen, hundert Schritte nach rechts, in den Raum hinein, und dem Henker tief in die Augen schauen. Er ist ein strenger und frustrierter Mann mit einem Scheißjob.
Während ich meine Zeit so in Gedanken verbringe, erzählt mir meine Freundin von ihren Plänen, endlich schwanger zu werden, Kindererziehung, Probleme mit dem Schulsystem. Sie redet ohne Pause, ganz offensichtlich um mich abzulenken. Teilweise klappt es auch, ich bin ihr dankbar. Doch innen drin gibt es diese harte Nuss, genau zwischen Bauch und Zwerchfell, ein Punkt im Universum, fest und unbeweglich, so dass ich von dort aus die ganze Schöpfung verschieben könnte.
Noch ein Sms kommt:
„Die Leute lachen.“
Es wird ein bisschen leichter und ich wundere mich. Lachen ist das letzte womit ich gerechnet habe. Bei den Sichtungen mit Kollegen und Fachleuten herrschte stets eine bedrückte Ernsthaftigkeit, eine Art Grabesstimmung, die meine lustig gemeinten Einfälle wie tote Fliegen von der Decke plumpsen ließ, hinein in das Mausoleum der kritisch-analytischen Ernsthaftigkeit. Fehler wurden entdeckt, herausgearbeitet, auseinandergenommen.
Mittlerweile habe ich alle Pfefferminzblätter aufgegessen, die Stimme meiner Freundin plätschert wie ein Springbrunnen dahin, ich kann die Wörter nicht auseinanderhalten. Der Countdown läuft unerbittlich. Wie viele Minuten haben wir noch? Sie sucht nach ihrem Handy. Wir müssen los. Aufstehen und zahlen. Nach links, nach rechts. Kurz in die Wohnung hinein, mein Telefon vom Ladegerät holen. Ein Sms auch für mich da:
„Kommt super! Die Leute lachen andauernd!!!“
Leise kommt Freude auf, wie eine zarte Pflanze, die es gerade geschafft hat, durch eine Felsenritze zu wachsen.
Ich habe mit einem Flop gerechnet. Mit verhaltenem Lächeln von Freunden, die mir vermitteln, dass es nichts macht, mal was vergeigt zu haben, sie lieben mich trotzdem. Ich will aber nicht trotzdem geliebt werden, sondern gerade weil.
Wir steigen ins Auto. Es wird immer knapper. Ankommen, parken. Letze Sms.
„Abspann läuft.“
Eine junge Frau öffnet die Tür und nimmt mir die Tasche ab. Ich gehe in den Saal hinein. Applaus. Treppe hoch. Noch mehr Applaus. Treppe runter. Jubeln. Glückliche Gesichter.
Die Wirklichkeit ist ein komisches Ding.
Es gibt viel Platz auf der Bühne, das Klatschen geht Minuten lang weiter. Menschen kommen und gratulieren. Sie hatten offensichtlich Spaß. Mitunter „ganz normale” Leute, ohne Filmerfahrung. Andere, die den Film schon vorher gesehen und äußerst kritisch beäugt hatten, sagen jetzt: „Du hast den Film umgeschnitten, oder? Jetzt gefällt er mir super!“ Ich nicke, ja, ja, das stimmt zwar nicht, aber ich will keine Verwirrung stiften.
Ich hatte mal mit großem Erfolg gerechnet. Es wurde ein Flop. Jetzt habe ich mit einen großen Flop gerechnet und es wurde ein Erfolg.
Donnerstag Abend. Tao Te Puh. (Das Buch vom Tao und Puh dem Bären) Kamikazeflieger. Paradoxe Interventionstherapie.
Die Wirklichkeit, nichts als eine weiße Leinwand, auf der ich meine Bilder projiziere.
Nur: wer bin ich? Und wer ist die Leinwand? Was machen die Anderen während dessen?
„Wer seine Heimat verlässt, verliert einen Teil seiner Seele.“ – steht es auf der Postkarte zu meinem Film. In diesem Sinne:
Was ist Heimat? Und was ist Seele?
Ich merkte, dass ich mich auf das Wesentliche konzentrieren, und die Frage genau stellen musste. Also stellte ich die kardinale, alles entscheidende Frage eines jeden Künstlers:
„Habe ich überhaupt Talent?“
Hat jemand, dessen erster Spielfilm nicht auf einem großen Festival läuft, Lebensberechtigung? Talent kann man ja nicht erlernen. Also, wenn ich es nicht habe, dann stellt sich die Frage zum Beispiel… einer gut organisierten Hühnerzucht. Jetzt, wo ich auf dem Land wohne. Oder, in der Rolle der Mutter restlos aufzugehen, in Fitnesswahn auszubrechen, mich für biologisch-dynamische Trennkost und Waldorf-Erziehung zu interessieren, oder mein Seelenheil bei den Zeugen Jehovas zu suchen.
Ich übersetzte die Frage auf Ost-Europäisch. Jetzt lautete sie so:
„Bin ich genial?“
Bei uns zählt nämlich gar nix unter Genie. Leistung ist etwas für langweilige Protestanten.
Béla Tarr* ist zum Beispiel genial. Wenn ich auch nur eine Einstellung aus einem seiner Filme sehe (die Einstellungen dauern im Schnitt 35 Minuten in schwarz/weiß), dann wird mir klar, dass ich mindestens noch fünfmal als Ameise auf die Welt kommen und sehr fleißig Sandkörner schleppen muss, um das mal zu schaffen. Die Antwort könnte also lauten:
1. Nein, ich bin es nicht. Genie zeigt sich schon im Kindesalter. Oder spätestens mit Anfang zwanzig, in einem rasenden Festivalerfolg.
Ich aber wusste mit Anfang zwanzig höchstens, in welche Kneipe ich am Abend gehen werde. Oder nicht einmal das.
Darüber, dass ich kein Genie bin, wurde ich sehr traurig. Und irgendwie fand ich das auch ungerecht. Warum ausgerechnet ich nicht? Der Mozart oder die Frida Kahlo oder auch der schon erwähnte Béla Tarr oder meine fünf Kumpels aus der siebenbürgischen Stammkneipe? Warum sind sie das und ich nicht??
Ich kam nicht weiter, bis sich ein rettender Gedanke auftat:
2. Es gibt auch späte Genies. Manche müssen zuerst todkrank werden oder in den Knast kommen, Drogen nehmen oder sich hoffnungslos in einen Selbstmordattentäter verlieben oder zu Fuß nach Afrika pilgern. Um nur ein paar Möglichkeiten zu erwähnen.
Doch ich habe irgendwie einen ganz dicken Bauch. Muss im Bett liegen und kriege bald ein zweites Kind. Mein Mann ist auch kein international gesuchter Terrorist, nur ein einfacher, manchmal jähzorniger aber meistens netter Ehemann. Mein verzweifelter Versuch, endlich drogensüchtig zu werden, ist schon mit 25 gescheitert… wie soll man da genial sein?
Ich suchte weiter und kam zu Schluss, dass man
3. Nicht genial sein muss um glücklich zu werden.
Ja. So. Das stimmt. Jetzt haben wir die Lösung. So klingt eine Lebensweisheit. Ich brauche das gar nicht, „genial sein“ ist unwichtig, ich konzentriere mich ab jetzt auf das innere Glück. Pause, neuer Kaffee.
Nicht zweifeln, nicht denken, sich auf die inneren Werte konzentrieren.
Plötzlich bin ich drei Jahre alt, sitze im ungeheizten Wohnzimmer meiner Großmutter auf dem Kinderstuhl und darf nicht spielen, um keine Unordnung zu machen. Oma stinkt ein wenig und will mir Werte beibringen. Sie sagt zum Beispiel „Das wichtigste im Leben ist die Güüüte.“ Mit einem sehr langen Ü.
Mein zweiter Kaffee ist schon leer, ich konzentriere mich immer noch auf das innere Glück. Da kommt mir ein rettender Gedanke. Ich könnte meinen ganzen Werdegang als Filmemacher einer Analyse unterziehen.
1. Am Anfang meines Studiums sagte der Dokumentarfilmlehrer: „Sie haben kein ausgesprochenes Filmtalent. Sie haben eine besondere Sicht auf die Welt. Und das ist viel wert.“ – Er wollte mir damit ein Kompliment machen, ich nahm das als Beleidigung.
2. Hauff* sagte: „Sie sollten Filme über Frauen machen. Die andere Seite ist schon belegt.“ – Ein guter Tipp. Habe ihn nicht befolgt.
3. Ballhaus* meinte nach einer Kameraübung: „ Réka, Du hast ein seltenes Talent, mit Schauspielern umzugehen. Ich habe wirklich viele Regisseure in meinem Leben gesehen, junge und alte, und das was du kannst, können nur ganz wenige“ – Wao. Und das sagt er, der mit Scorsese und Coppola gearbeitet hat.
Danach bin ich als erstes in die Kneipe gerannt und habe mein Erlebnis mit Ballhaus ausgiebig meinen Freunden erzählt. Das machte Eindruck und ich war ganz berauscht von mir selbst und meiner vermeintlichen Größe. Über die Jahre wurde die Story mit Ballhaus meine Lieblingsleier, und ich fing an, mich darüber zu wundern, dass sich das noch nicht eingestellt hat. Schon sechs Jahre um und noch keine kleine Scorsesa? Nicht Mal eine Sofia Coppola? Erste Zweifel taten sich auf. Hat er das wirklich gesagt? Oder habe ich mir das nur eingebildet? Später erkannte mich Ballhaus nicht mal mehr in der Cafeteria. Aber er ist ja auch alt und vielleicht schon ein wenig…na ja.
Meine beste Freundin Réka rief mich an, nachdem sie meinen ersten Spielfilm sah, ihre Stimme, als würde sie mir eine Todesnachricht überbringen: „Wie konnte das passieren?“ – fragte sie.
Der Kritiker rief an und sagte: „Ganz tolles Debüt, gefällt mir sehr gut, das wird super laufen“
Meine Lehrerin sagte: „Du bist so von Meinungen Anderer abhängig, es ist egal wer was sagt, Du musst es für Dich wissen..“
Hühnerzucht, denke ich. Schenkt mir bitte zwanzig Hühner, ich zähle jeden Morgen die Eier. Das wird toll. Oder macht mich zum Postboten. Zur Arzthelferin mit Kopftuch beim Kreuzberger Gynäkologen. Oder überweist mir einfach jeden Monat 1500 Netto und ich kümmere mich um den Haushalt.
Es ist Ostern.
4. Nur die Liebe zählt. Das steht in der Bibel im einzigen Kapitel das ich wirklich öfters gelesen habe. Apostel Paulus, erster Brief an die Korinther, Kapitel 13.
Wenn ich in Menschen- und in Engelszungen redete, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich ein dröhnendes Erz und eine klingende Schelle…
An manch einem Karfreitag habe ich über dieses Zitat geweint. Einmal mit sechzehn, da lief es im Radio und ich schlief gerade. Es drang zu mir durch, ohne dass ich die Möglichkeit hatte, darüber nachzudenken. Als ich aufwachte, flossen mir die Tränen, und ich konnte gar nicht aufhören zu weinen, weil ich fühlte, dass es stimmt.
Es gibt eben Dinge, die muss man fühlen und Gefühle sind wie Talente. Die kommen von irgendwo und lassen sich nicht beherrschen.
Solange ich nicht fühlen kann, muss ich eben denken. Oder Hühner züchten. Oder im Schlaf das Radio einschalten und hoffen, dass etwas zu mir durchdringt. Wie zum Beispiel:
„Jetzt schauen wir noch wie durch einen Spiegel in einem dunklen Wort, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich nur Teile, dann aber werde ich erkennen, wie auch ich erkannt sein werde. Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei.
Am größten aber ist die Liebe.“
Schön, oder?
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Premiere am 19.04.2012 um 21:30 im Filmtheater am Friedrichshain