Mütter

„Mama, ich bitte dich…Mama hör bitte auf.“ – sagte meine Mutter, dreiundzwanzig Jahre alt und ihre Tränen flossen unaufhörlich, sie kniete auf dem Boden, die Hände zusammengefaltet wie vor dem Altar und bettelte um Gnade. Hinter ihr, durch die verglaste Tür und die dünnen, weißen Vorhänge war eine Gestalt zu erkennen, die eines jungen Mannes, leicht über den Esstisch gebeugt, wie jemand, der gezwungen ist mitzuhören.

Großmutter, klein und stämmig, mit riesiger Nase und niedriger Stirn, immense Kraft geballt auf schrecklich kleinem Platz, diese armenische Generalin stand in der Mitte des Schlafzimmers und schrie. „Er soll gehen! Raus mit ihm! Dieser Mann hat hier nichts zu suchen! Ich will ihn nie wieder sehen!“

Ihre Stimme rutschte viel zu hoch, ein Schrei aus dem Kopf, aus dem zitternden Hals, ohne Bauch, ohne Becken, ein Klagelied am Grabstein der Liebe.  Sie sah ihrer wimmernden Tochter zu, durch einen Schleier voller Ungerechtigkeit und Verzweiflung, ratlos warum sie nichts empfand, warum ihr Herz hart war wie die Felsen des Kaukasus oder die Hornhaut auf der Fußsohle ihrer Vorfahren, den armenischen Knopfhändlern, Flüchtlinge vor türkischer Gewalt. Sie waren aus Anatolien durch den halben Balkan nach Transsilvanien gewandert, um von einem ungarischen Fürsten Asyl zu bekommen.

„Mama, hör bitte auf!“ flüsterte meine Mutter und der junge Mann bewegte sich, nahm seinen Mantel und verschwand wortlos für immer. Er hinterließ sie auf dem dunklen Perserteppich kniend, zwischen ihr und dem lieben Gott die geschwollenen Füße ihrer Mutter. Knotige Zehen in weiße Sandalen gepresst, Beulen und Schmerz.

Meine Großmutter litt Qualen bei jedem Schritt, wie eine gealterte kleine Seejungfrau, die das Beste von sich schon lange an die böse Hexe verkauft hatte, und sich weigerte, Meeresschaum zu werden, obwohl der geliebte Prinz sie nie erkannt hatte.

Lieber quälte sie ihre Tochter.

Und die später ihre.

Und jetzt habe ich auch eine Tochter…

 

 

 

 

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2 Antworten auf Mütter

  1. Sherry sagt:

    Du bist eigensinnig bis zum Gehtnichtmehr. Du wirst es anders machen, weil du weißt, dass du musst. Das traue ich dir zu.

  2. Sofasophia sagt:

    was für eine chance, den qualkreis zu durchbrechen!
    ein sehr bewegender, sehr stark formulierter text, der buchstäblich unter die haut geht.
    danke.

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